Herbst 2006
Bombay alias Mumbai
Der Empfang im Hotel Sea Green ist weniger freundlich als die Mails, die unsere Buchung bestätigt haben — wortlos schiebt uns der Hotelmanager das grosse Buch zum Eintragen unserer Personalien hin und schaut uns mit steinerner Miene zu, wie wir die flatternden Seiten bändigen, die der starke Ventilator immer wieder umblättert. Ein ebenso mürrischer Angestellter fährt uns mit dem Lift zu unserem riesigen Zimmer, immerhin sieht man vom Balkon aus den Marine Drive und das Meer. Es ist schon spät und wir sind hungrig und mögen nicht mehr allzu weit gehen, um ein nettes Restaurant zu finden. Also landen wir in der Pizzeria in der Ecke zur Nariman Road, schauen melancholisch durch die grossen Glasscheiben auf den dünnen Kutscher und das klapprige Pferd und sind noch nicht so ganz in Indien angekommen («was machen wir hier?»)
In den nächsten Tagen erschliesst sich aber der Charme von Mumbai (Bombay) nach und nach. Feuchtwarmes Klima, viel Verkehr, viel Grün, schöne Architektur (spektakulär der Victoria Terminus, jetzt Chhatrapati Shivaji Terminus) und immer wieder starke Regenschauer.
Wir essen südindisch zum Zmorge, Parsi zum Znacht, einmal Bombay Duck (einen Fisch) und immer fein. In den Art Deco-Kinos Regal und Eros sehen wir «Kabhi Alvida Na Kehna» und «Lage Raho Munnabhai» und können trotz fehlender Untertitel der Handlung ganz gut folgen. Vor Beginn der Vorstellung ertönt jeweils die Nationalhymne und alle Zuschauer stehen auf. Während der Titel von KANK relativ einfach mit «Never Say Goodbye» zu übersetzen ist, bereitet mir die Bedeutung von «Lage Raho» viel Kopfzerbrechen und kann nicht ergründet werden. Reift in diesem Zeitpunkt bereits die Entscheidung, einen Hindi Sprachkurs zu besuchen? Auf jeden Fall stossen wir «zufällig» auf die Adresse der Landour Language School in Mussoorie, die solche Kurse anbietet. Nun liegt diese Hill Station ganz im Norden im Bundesstaat Uttarakhand, ca. 300 km nördlich von Delhi und entsprechend noch viel weiter weg von Bombay. Da hätten wir doch gleich nach Delhi fliegen können!
Ali Mera Dil
Landour Language School
Nachdem wir uns also entschieden haben, Hindi zu lernen, starten wir unsere 35-stündige Zugsfahrt in den Norden. Das Zugfahren ist immer ein Highlight, trotz eisig blasender Klimaanlage. Ein guter Tipp: ein grosser Schal ist Gold wert, als Kopf- und Halstuch, als Bettdecke, zum Abtrocknen, als Sichtschutz…
In Delhi fahren wir mit einer Rikscha von der New Delhi Railway Station durch die engen Gassen zum Bahnhof von Old Delhi. Es ist Feiertag, Dussehra, und die drei riesigen Figuren von Ravana und seinen Dämonenkollegen werden mit viel Geknalle und Feuerwerk verbrannt. Die Zuschauer sind gefährlich nah, und als die Drei funkensprühend explodieren, müssen wir uns vor herunterfallenden brennenden Körperteilen in Sicherheit bringen.
Im bequemen Schlafabteil fahren wir dann durch die Nacht weiter Richtung Norden. Am frühen Morgen durch grüne Landschaft im fast leeren Zug nach Dehradun, der staubigen Hauptstadt von Uttarakhand. Dort nehmen wir nach dem Zmorge einen Bus und fahren eine Stunde immer höher hinauf in die Berge. Die kurvenreiche Strasse bringt uns nach Mussoorie, 2000 m hoch gelegen, die Schneeberge des Himalaya scheinen hier recht nah zu sein.
Wir lassen uns mit dem Taxi noch ein bisschen höher nach Landour bringen, in diesem Teil von Mussoorie befindet sich die Schule. Wir finden ein stilvolles Guesthouse im Wald, Devdar Woods, kolonialer Charme und liebevoll bepflanzter Garten, riesige Bäume mit lärmenden Makaken und eleganten Languren.
Dann machen wir uns auf zur Schule und erkundigen uns beim Principal über das Angebot. Eigentlich möchten wir ja nur ein paar Grundlagen lernen, das Wichtigste in Kürze, sicher nicht die Schrift — aber oha: entweder alles oder nichts, teilt uns der strenge Headmaster in gepflegtem Englisch mit, ohne Schrift gibts kuch nahi (gar nichts…). Ausserdem nimmt er nur für ein paar Tage sowieso keine Schüler auf. Also schreiben wir uns gleich für zweieinhalb Wochen (!) Hindi For Beginners ein, Kursbeginn ist bereits am nächsten Tag. Das wird sicher anspruchsvoll, ohne Vorkenntnisse nicht «nur» eine neue Sprache, sondern auch eine fremde Schrift zu lernen!
In Devdar Woods sind bereits andere (viel jüngere) Students untergebracht, wir sehen sie im schönen Garten lernen und schreiben. Ich schaue neidvoll auf die eleganten Devanagari Schriftzeichen und frage mich, ob wir das wirklich je lernen werden.
Unser Zimmerchen ist einfach, gegessen wird gemeinsam mit den anderen Sprachschülern in einem Speisesaal, gekocht und serviert von netten Angestellten, die den Fortgeschritteneren auch als geduldige Übungspartner zur Verfügung stehen. Die anderen Hindi Vidyarthi (Schüler) sind natürlich alle viel jünger als wir, Amerikanerinnen, ein Engländer, ein Italiener und ein Schweizer Theologiestudent, der sich auf unsere Hindi Wörterbücher stürzt, um alle Begriffe, die er noch nicht kennt, zu kopieren. Er spricht schon recht gut und versichert uns, dass wir sicher die Schrift lernen und Grundkenntnisse der Sprache erwerben werden. Aber er ist auch ein richtiges Sprachtalent, er lernt nebenbei noch Hebräisch und Sankrit, und ich höre ihm voller Bewunderung zu, wie er jede Gelegenheit nützt, mit den Angestellten in Hindi zu parlieren.
Am nächsten Tag gehts los. Thömu und ich sind zu Zweit und haben bei verschiedenen Teachers Unterricht. Wir beginnen mit der Schrift: Zuerst die Vokale, dann kommen jeden Tag ein paar neue Schriftzeichen dazu — es heisst also üben, üben, üben. Mein Tagebuch füllt sich mit krakeligen Devanagari Zeichen, die aber zunehmend formschöner aussehen. Das Lesenlernen weckt Erinnerungen an die erste Klasse, wir buchstabieren langsam und stockend und setzen nach und nach die Bedeutung der Wörter zusammen. Ausserdem werden wir gedrillt, bis uns der Kopf schwirrt mit Postpositions, Oblique Forms und Intensifiers, alles nette Eigenheiten des Hindi. Die Schulstunden finden in karg eingerichteten, feuchtkühlen Räumen statt, teilweise auch im Turm der Kirche, die am Sonntag immer noch für den Gottesdienst genutzt wird.
Die Lehrerinnen und Lehrer wechseln sich ab: Mr. Dinkar, der Tabellen liebt uns uns die Finessen des gepflegten Hindi näherbringen will («say after me»), Jarwinder, die trotz Kälte das Fenster immer offen haben muss, «weil sonst ihr Hirn stillsteht» und die fast in ihrem Schal verschwindet (ihr Lieblingswort: drill!), Tasleem, der Kenner von Hindifilmen, der uns geduldig die (für unsere Westlerohren nicht hörbaren) Unterschiede zwischen d, dh, dd, ddh usw. beibringt.
Am Nachmittag wabert manchmal der Nebel um die grauen Steinhäuser, die perfekte Kulisse für einen Daphne du Maurier-Roman. Dazu die dichten Wälder und in der Ferne die schneebedeckten Hügel — Indien scheint weg zu sein. Neben den Schulstunden und den Hausaufgaben bleibt wenig Zeit für Ferien… Trotzdem machen wir Spaziergänge durch den dichten Wald oder sitzen im Garten unter der riesigen Zeder und schauen den Languren zu. Manchmal wandern wir ins Städtchen hinab, um in der Library die Zeitung zu lesen, uns im Pub ein Bierchen zu genehmigen oder in einem tibetischen Lokal Momos zu essen. Die besten gibt es im Golden Restaurant, 8 Stück zu 35 Rupies. Im Devdar sind alle Mahlzeiten am Gemeinschaftstisch inklusive, aber um dem Lagerkoller vorzubeugen, essen wir zwischendurch auswärts. Eine gute halbe Stunde bergab mit schönen Ausblicken auf die Ebene dauert der Spaziergang ins Zentrum von Mussoorie. Hier gibt’s «The Mall», eine Art englische Seepromenade ohne Meer, mit verschnörkelten Strassenlaternen, Blumenrabatten, «Kunst» und Aussichtspavillons. Etwas ausserhalb hat es Teeplantagen und ein tibetisches Zentrum, ausserdem einen Zoo. In der Mitte des Orts befindet sich vielgepriesene Schwebebahn auf den Aussichtspunkt «Gun Hill», der seinem Namen alle Ehre macht mit den Schiessbuden und dem heruntergekommenen Rummelplatz-Flair. Die Viewpoints sind gut versteckt hinter den altmodischen Schaubuden, dafür ist die Aussicht auf die Schneeberge umso schöner. Da sich aber uns in Bern beim Gang über die Kornhausbrücke die gleichen erhebenden Ausblicke fast täglich bieten (d’Bärge!), hält sich das Ah und Oh etwas in Grenzen.
Indische Touristen fallen vor allem am Wochenende ein und manche kommen speziell zum Pizzaessen in unser Hotel, die Pizza ist offenbar die Attraktion des Devdar! Auch sonst ist das Essen gut, wenn auch nicht sehr abwechslungsreich, Reis, Dal, Gemüse und manchmal Huhn, indisch eben. Unsere (teilweise sehr verwöhnten) Mitbewohnerinnen setzen eine Liste auf, worin sie mehr Abwechslung fordern, namentlich wollen sie mehr Früchte, Müesli und Salate (!) Eine ziemliche Anmassung, wenn man sieht, was das saisonale Angebot ist, ganz zu schweigen vom lächerlich günstigen Preis, den wir hier für All Inclusive zahlen.
Es ist so ruhig hier, am Morgen hören wir nichts als Grillen und Vogelstimmen. Manchmal lärmen die Affen, sie rennen über das Hoteldach und drehen immer wieder mal am Hauptwasserhahn, dann kommt jeweils kein Wasser aus der Dusche. Manchmal fällt am Abend der Strom aus und dann liegen wir minutenlang im dunklen Zimmer und lauschen der Stille, eine willkommene Unterbrechung, wenn wieder Wörtli gelernt werden müssen. Nach ein paar Startschwierigkeiten sind wir inzwischen ein recht gut eingespieltes Lernteam und die Sprache fängt an, richtig Spass zu machen.
Tasleem meint, dass wir reif seien für einen Hindi Film und schlägt uns vor, am Samstag nach Dehradun ins Kino zu fahren, um unser Sprachverständnis zu testen. Also nehmen wir den Bus hinunter ins Tal. In der Stadt ist es heiss und lärmig, nach unserer kühlen Hill Station sind wir uns den Trubel nicht mehr gewöhnt. Zuerst kaufen wir uns im Bahnhof am V.I.P. Schalter (in Devanagari lautmalerisch angeschrieben, ich kann es entziffern!) Zugsbillette nach Amritsar. Auf der Suche nach dem Kino in der Nähe des Clocktowers sehen wir, dass plötzlich alle Läden, Restaurants und sicher auch das Kino dichtgemacht werden, viel Polizei ist präsent. «Bandh» sagen die Leute, die wir fragen, offenbar ein Streik. Deshalb können wir nicht einmal ein Pani (Wasser) für unsere ausgedörrten Kehlen kaufen, so besteigen wir den nächsten Bus nach Mussoorie und fahren ins grüne Gebirg zurück. Durchatmen! In der Nacht zu Fuss zu unserem Waldhotel aufsteigen, über uns der glitzernde Sternenhimmel und unter uns die Lichter im Tal — unvergleichlich. Einmal hören wir aus verschiedenen Häusern einen bekannten Song aus Kutch Kutch Hota Hai und schaffen es nach dem dreiviertelstündigen Aufstieg noch locker, den Film im Salon des Devdar zu Ende zu schauen.
Die Tage gleichen sich: am Morgen lernen und manchmal einen Spaziergang machen, meist zum Chardukan, wo Thömu die Times of India bestellt hat, dann Mittagessen, am Nachmittag 4 Stunden Schule, zur Belohnung ein Chai im Chardukan, dann Aufgaben und Nachtessen. Das Wetter hält sich wunderbar, sonnig und frisch, manchmal ziehen am Nachmittag Nebel auf, und am Abend ist es recht kühl und sternenklar.
Am letzten Freitag unseres Aufenthalts ist Diwali, deshalb fällt die Schule aus. Am Vorabend sind die Läden alle geöffnet, überall hängen Girlanden und die Menschen kaufen neue Küchenutensilien. Wir treffen Mr. Dinkar mit einem Riesenpaket und kaufen uns auch sechs neue Chromstahlteller und Becher. Im Gewitterregen nach Hause, es donnert und der Regen prasselt die ganze Nacht aufs Blechdach. Am nächsten Tag fällt ein trostloser Dauerregen, wir lassen unser neu gekauftes Geschirr und ein paar Bücher von einem Schneider in ein Päckli einnähen, damit wir den überflüssigen Ballast nicht auf unserer Weiterreise mitschleppen müssen. Wir irren mit dem Paket von einem Post Office zum anderen, das erste ist nicht zuständig und das zweite ist geschlossen. So schleppt Thömu das schwere Ding meilenweit, es regnet ohne Ende und das südindische Essen zum Bierchen im Tavern bietet nur kurzfristig Trost. Schliesslich tröpfelt es nur noch. Die letzten Momos im Golden und da kein Taxi in Sicht ist, steigen wir zum letzten Mal zu Fuss hinauf zu unserem Waldhotel. In der Nacht wird es empfindlich kühl.
Am Samstag ist es wieder heller, wir verabschieden uns von unseren Mitbewohner-/innen und den netten Angestellten, das Trinkgeld stecken sie wortlos und fast mürrisch ein (ein Zeichen, dass es angemessen ist, habe ich irgendwo einmal gelesen…) Mit dem Taxi nach Dehradun, wo das Post Office wegen Holiday geschlossen ist, so begleitet uns das tonnenschwere Büsserpaket weiterhin…
Am Ursprung der Ganga
Mit dem Zug fahren wir durch üppiges Grün ins ca. 50 km entfernte Haridwar, eine der heiligsten Städte Indiens am Oberlauf des Ganges. Hier findet alle 12 Jahre die Kumbh Mela statt, das nächste Mal 2010. Vom Balkon unseres Hotels haben wir beste Sicht auf die belebte Strassen und das bunte Gewimmel: Pilger, Rikshas, Kühe, Saris, Turbane, Töffs — bestes Strassentheater live und nie langweilig!
Später schlendern wir über den farbigen Bazaar, überall locken Bangles, die schiere Auswahl überwältigt mich jedoch. Sehr angenehm sind die zurückhaltenden Verkäufer und die friedliche gelassene Stimmung. Hinunter zum Wasser, die Ganga ist hier noch ein rauschender, schnell ziehender Fluss — wenn es weniger kalt wäre könnte ich mir ein Bad in den grünlichen Wellen durchaus vorstellen. Am Abend findet eine eindrückliche Zeremonie statt mit Gong, Gesang und Lichtschiffchen.
Den ganzen nächsten Morgen regnet es, wir kaufen einen Schirm und wollen unser Gepäck im Cloak Room deponieren, da wir in der Nacht weiterreisen werden nach Amritsar (das Päckli sind wir inzwischen losgeworden). Da unsere Rucksäcke unverschlossen sind, wird die Annahme verweigert, und erst nachdem wir sie mit Vorhängeschlössern Pro Forma gesichert haben, können wir unser Gepäck deponieren. (Seither reisen wir nie mehr ohne Schloss und Schlüsselchen, das System hat Thömu inzwischen so professionalisiert, dass sich unsere Rucksäcke tatsächlich verschliessen lassen). Es wird wieder heller, wir spazieren am Ganges entlang, die Leute baden und vollziehen geheimnisvolle Handlungen, wir sehen kleine Altäre unter den Bäumen, Saddhus und Sonntagsspaziergänger.
Dann ins Kino: es läuft Don 2 von Farhan Akhtar mit SRK. Das Billett ist spottbillig, die Holzsitze hart und die Zuschauer sind vorwiegend junge Männer. Es gibt immer wieder Unterbrüche, wahrscheinlich Filmrisse, was immer lautes Buhrufen auslöst, bis die Handlung weiter geht. Besonders lustig ist, als es wieder einmal dunkel wird auf der Leinwand. Sofort ertönen laute Protestrufe, dabei wird in dieser Szene jemand in den Kofferraum eines Autos gesperrt, was aus der Sicht des Eingeschlossenen gezeigt wird… Im Saal gibt es aber auf jeden Fall mindestens soviel Action wie im Film! Es wird hemmungslos geschwatzt, telefoniert, der Nüssliwallah wird herbeigerufen (während der ganzen Vorstellung laufen Verkäufer durch die Reihen und preisen ihr Angebot an), ausserdem wird geklatscht und gebrüllt (Action) oder gepfiffen (Frauen). So richtig kann ich mich nicht auf den Film konzentrieren, erstens ist er in Hindi ohne Untertitel und zweitens starrt mich mein Sitznachbar unverwandt an und will auch noch ein Gespräch anfangen. Dann fällt ihm vor lauter Aufregung das Handy herunter und er kriecht suchend in der Dunkelheit unter den Holzstühlen umher. Die meisten Zuschauer haben den Film offenbar schon mehrmals gesehen, denn noch vor der letzten Szene stehen viele auf und verlassen das Kino, und so bekommen wir den Schluss gar nicht mehr richtig mit. Aber allein wegen dem Spektakel im Saal bleibt Don 2 unvergesslich.
Golden Temple
Am Abend besteigen wir den Zug nach Amritsar und kommen am nächsten Morgen früh an. In einer einfachen Dhaba esse ich die besten Parathas meines Lebens, frisch gemacht und wunderbar!
Nachdem wir uns im angenehmen Hotel in der Nähe des Bahnhofs etwas ausgeruht haben (die Nacht im Zug war diesmal nicht sehr erholsam), besuchen wir den Hari Mandir (Goldener Tempel) und lassen uns von der friedlichen Atmosphäre dieses speziellen Orts verzaubern. Die harmonischen Gesänge, der goldene Tempel, der sich im Wasser spiegelt, der kühle weisse Marmor unter den Füssen — hier verbringen wir Stunden und besuchen den Tempel mehrere Male an verschiedenen Tageszeiten. Die Stadt selber wird von Abgasen fast erstickt und der Verkehr ist beängstigend. In der Altstadt jedoch hat es einen farbenprächtigen Bazaar und unglaublich enge Gässchen, die wir zu Fuss durchstreifen. Mit der Veloriksha pendeln wir vom Hotel zum Tempel, immer mit dem schlechten Gewissen, sich von einem sich hart abstrampelnden Fahrer chauffieren zu lassen wie ein fauler Geldsack. Ich versuche mich, so leicht wie möglich zu machen und als die Strasse etwas ansteigt, steigen wir ab und gehen zu Fuss.
Da die Züge nach Bombay offenbar ausgebucht sind, fahren wir am nächsten Morgen früh nach Delhi, wo wir in den entscheidenden letzten fünf Minuten noch ein Ticket erhalten für den Nachtzug nach Bombay, der am gleichen Abend fährt. Genug Zeit für einen Spaziergang zum Connaught Place resp. Rajiv Gandhi Chowk bleibt aber noch. Im Cloak Room können wir nach langem Hin und Her und nach erfolgreicher Montage unserer Chorte Tale (kleinen Schlösser, die wir jetzt fliessend in Hindi benennen können) doch noch unsere Rucksäcke deponieren. Im United Coffee House essen wir ein feines Murgh (und wenn mich nicht alles täuscht, sitzt der gleiche Avatar von Bobby Charlton wie letztes Jahr am gleichen Tisch…)
Ellora und Ajanta
Mit einer netten Familie aus Gujarat verbringen wir eine Nacht und den Tag im Zug, Thömu lehrt den den Sohn Sanjay Sudoku. Als Dank erhalten wir süsse, mit Silberfolie überzogene Diwali-Stückli.
Das Hotel Oasis in Bombay in der Nähe des Victoria Terminals resp. Chhattrapati Shivaji Terminus ist tiptop sauber, mit klimatisiertem Zimmer und freundlichem Service. Zum wohlverdienten Bierchen später gibts für mich Aloo Palak, Thömu verzichtet, er fühlt sich nicht wohl und hat auch ein bisschen Fieber. Am nächsten Tag trifft es mich, und nachdem wir Zug Tickets für Aurangabad gekauft haben, bleibe ich im angenehm kühlen Zimmer und döse.
Für das Znacht am Abend bin ich wieder fit, der keralische Chef de Service empfiehlt uns seine Heimat wärmstens. Maybe next time!
Vorläufig steht Aurangabad auf dem Programm. Im modernen Zug auf bequemen Sitzen fahren wir am nächsten Morgen los, durch wunderbare Landschaft mit Mangobäumen, Baumwollfeldern und eigenartigen Tafelbergen. In Aurangabad ins Hotel Great Punjab in der Nähe des Bahnhofs. Die Ausfahrt mit dem gemieteten Velos scheitert nach kurzer Zeit, zu unberechenbar ist der Verkehr, zu unsicher fühle ich mich auf dem zu hohen Herrenvelo — mein Fahrstil wird durch all die Zurufe der Einheimischen noch etwas wackliger — ein Debakel! Ich bin den Tränen nahe, Thömu genervt, wir bringen die Velos zurück und stolpern lustlos durch die nicht sehr attraktive Stadt. Schliesslich geben wir auf und flüchten uns ins Hotel zu Cricket (Thömu) und in bleischweren Schlaf mit Alpträumen (ich).
Am nächsten Tag, es ist Sonntag, sieht alles doch schon heiterer aus, der Ausflug zur Bibi Ka Makbara (das Mausoleum für die Frau von Aurangzeb, eine etwas ungelenke Interpretation des Taj Mahal) ist ein Erfolg, vorallem bei den sonntäglich gekleideten indischen Familien. Von allen Seiten werden wir fürs Foto Shooting herbeigerufen. Wahrscheinlich wird die Anwesenheit der Bleichnasen auf den unzähligen Fotos den bereits etwas ungünstigen Eindruck der Anlage nicht verschönern…
Mit einer Motorriksha fahren wir dann zu den nicht sehr bekannten Aurangabad Höhlen, sind dort auch die einzigen Touristen und geniessen die friedliche Atmosphäre und bewundern die Steinreliefs und ‑Figuren.
Die weitaus bekannteren Höhlen von Ellora besuchen wir am nächsten Tag, ein Bus fährt uns hin. Wir verbringen Stunden in der phantastischen Anlage und haben doch noch nicht alles gesehen. Die Wunderwerke aus Stein, der Ort, wo Hinduismus, Jainismus und Buddhismus in einzigartiger Weise nebeneinander bestehen, gehört zu Recht zum Unesco Weltkulturerbe. Unglaublich der Kailash Tempel, der aus einem riesigen Felsblock herausgehauen wurde, so lebensecht die Elefanten, die ihn zu tragen scheinen!
Ein kurzer Platzregen, wir warten am Schärme mit einem Chai auf den Bus, der uns wieder nach Aurangabad bringt. Ein Biryiani zum Znacht im «Kitchen» gegenüber unseres Hotels. Wir vereinbaren mit Ashok, dem netten Rikshafahrer, der uns am Vortag angesprochen hat, dass er uns übermorgen mit dem Taxi zu den berühmten buddhistischen Felsentempeln von Ajanta fährt.
Eigentlich wollen wir einen Ruhetag einschalten, aber schon lockt die nächste Sehenswürdigkeit: Daulatabad, die riesige Festungsanlage aus der Moghul Zeit, die wir gestern auf dem Weg nach Ellora gesehen haben. Mit dem Bus fahren wir hin. Es hat keine anderen westlichen Touristen, und so werden Uncle und Auntie wieder gebührend bestaunt und befragt. Auf dem höchsten Punkt der Festung hat es viel Aussicht, lärmende indische Jungs im schwierigen Alter und freche Languren, die sich mit gestohlenen oder geschenkten Chappatis vollstopfen. Wieder ein kurzer, aber heftiger Regenguss, aber nachdem uns der Bus zurück nach Aurangabad gebracht hat, scheint dort bereits wieder die Sonne. Zum Znacht gibt es ein feines Hühnchen, der Kellner spricht deutsch («Wie geht es Ihnen, gnädige Frau?»).
Am nächsten Morgen wartet der von Ashok geschickte Taxifahrer vor dem Hotel und fährt sicher und gesittet durch Baumwolle‑, Zuckerrohr- und Maisfelder Richtung Ajanta. Wir sehen ein Gruppe Fahrende mit ihren Wagen, die von Ochsen gezogen werden und tipiähnliche Zelte auf ihrem Lagerplatz.
In Ajanta fahren wir mit einem Shuttlebus zum hufeisenförmigen Felsencanyon à la Creux-du-Van. Dort befindet sich sich ein weiteres Unesco Weltkulturerbe, die Felsenhöhlen. Ein paar sind mit Wandmalereien ausgeschmückt, die leider in einem erbärmlichen Zustand sind. Würde ich die Malereien nicht von Reproduktionen kennen, ich würde weder die reich geschmückten Frauen noch die Boddhisattvas, die Pfauen und weitere feine Details erkennen. Die feuchte Luft und die vielen Besucher werden den Zerfall wahrscheinlich noch beschleunigen. Dafür sind die Skulpturen in den anderen Höhlen und überhaupt die ganze Anlage grossartig. Geradezu magisch erleben wir den grossen liegenden Buddha in der letzten Höhle, die späten Sonnenstrahlen lassen ihn aufleuchten. Er strahlt eine so heitere Ruhe aus, dabei wird er im Augenblick seines Sterbens dargestellt. Teilweise nicht fertiggestellte oder nur angefangene Höhlen lassen erahnen, wie gewaltig die Arbeit war, diese Tempel aus dem Stein herauszuarbeiten! Manche haben Gewölbe wie in Kathedralen. Die Steinskulpturen, die Säulen, die Verzierungen: unmöglich, alles aufzunehmen. Wir brauchen eine Verschnaufpause und spazieren zum Aussichtspunkt gegenüber. Von hier hat eine englische Jagdgesellschaft die Anlage im Jahr 1819 offenbar wiederentdeckt, nachdem sie tausend Jahre in Vergessenheit geraten war. Als wir wirklich nichts mehr aufnehmen können, ist das wartende Taxi ein willkommener Luxus.
In Aurangabad sind wir schon Stammgäste in der Permit Hall, wo Alkohol ausgeschenkt wird. Ein Kingfisher zum Apero, später scharfes Biryani und Tandoor Murg.
Das Bierchen müssen wir uns am nächsten Tag verklemmen, denn es ist Dry Day und somit wird nirgendwo Alkohol ausgeschenkt. Zuerst besuchen wir den Gemüse- und Viehmarkt, dann fahren wir mit dem Bus nochmals nach Ellora und dort zuerst einmal in Cave 16, den grossartigen Kailash Tempel, der grösste Felsentempel dieser Art in Indien. Zum Fotografieren besuchen wir noch einmal die schönsten Höhlen, vor allem die letzte mit den drei Eingängen ist gewaltig und besonders schön im späten Nachmittagslicht. Das Timing für den Bus nach Aurangabad ist ausgezeichnet, die Sonne geht unter, in der Dunkelheit sehen wir auf einem Friedhof (?) Hunderte Kerzen brennen.
Am Abend holt uns Ashok wie abgemacht ab und fährt uns mit seiner Riksha zu seinem Einzimmer-Häuschen. Wir trinken Tee und sprechen mit der aufgeweckten Tochter, sie zeigt uns ihre Schulhefte. Der einzige Wohnraum dient als Arbeits‑, Ess- und Wohnzimmer. Ashoks Frau bleibt nach der Begrüssung scheu in der «Küche» hinter dem Vorhang, der die Kochstelle vom Hauptraum abtrennt. Sie spricht nicht Englisch («she ist not educated»). Ashok will kein Geld annehmen für die Riksha Fahrt und die Bewirtung, schliesslich können wir aber seiner Tochter etwas zustecken. Später im Hotel schaut Thömu noch den Cricket-Halbfinal West Indies gegen Südafrika. Mir bleiben die Regeln dieses Spiels weiterhin ein Rätsel.
Verpasster Flug und gewonnene Zeit
Mit dem komfortablen Zug gehts schliesslich wieder nach Mumbai (Bombay), wir beziehen ein kleines Zimmer wieder im angenehmen Hotel Oasis an der Shahid Bhagat Singh Road (was für eine Adresse!). Ich fühle mich nicht wohl, habe Fieber und Durchfall und bleibe mal im Zimmer, Thömu zieht alleine los. Später entdecken wir das reizende Cafe Universal, 1921 gegründet offenbar von Iranern (Parsen?). Boman Irani war auch schon hier, wie eine Foto an der Wand zeigt. Die ruhige Atmosphäre und die Einrichtung gefallen uns sehr. Später auf der Strasse läuft uns jemand nach («Hello! Excuse me!»), ich drehe mich widerwillig um, und da steht der Kellner mit meiner Tasche samt Geld und Pass, die ich liegen gelassen habe! Am nächsten Tag bringen wir ihm dann einen Finderlohn ins Cafe, den er zwar zuerst gar nicht annehmen will.
Dieser Samstag ist unser letzter Tag, wie üblich nutzen wir die verbleibende Zeit mit Einkaufen im Government Emporium, wobei dieses hier bei weitem nicht so viel Auswahl bietet wie das in Delhi. Die letzten Stunden in Bombay, die wir ruhig angehen können, denn unser Flug geht spät in der Nacht bzw. früh am nächsten Morgen.
Mit der Ruhe ist es dann schlagartig vorbei, als wir nochmals die genaue Abflugszeit kontrollieren und merken, dass das Flugzeug bereits heute morgen früh ohne uns gestartet ist! Merke: Wenn das Flugi am Samstag, 5. November um 00.23 fliegt, bedeutet das ganz früh am Morgen und nicht nach Mitternacht! Wir hätten also bereits am Freitag in der Nacht zum Flughafen fahren sollen. Ungläubig starren wir auf die Tickets, aber es ist nicht zu ändern: das Flugzeug ist weg und wir sind noch da. Nach dem ersten Schock heisst es handeln, aber die Büros der Austrian Airlines sind erst am Montag wieder besetzt, und so können wir erst mal gar nichts unternehmen. Auf diesen Schreck gibt’s ein Bier im Universal, wir verlängern unseren Aufenthalt im Oasis und können uns schon bald wieder freuen über die gewonnene Zeit in Bombay. Eine Mitteilung ans Büro, dass die Montagssitzung ohne mich stattfinden wird, und dann ergeben wir uns dem Schicksal. Der Upperwallah wird es schon richten!
Am Sonntag besuchen wir mit vielen muslimischen Pilgern die Hadji Ali Dargah, eine Moschee und ein Grabmal auf einer Felseninsel im Meer. Sie ist nur über einen Damm erreichbar, und bei Flut gibt’s nasse Füsse. Ausserdem sehen wir vor dem Lakshmi Tempel lange Schlangen festlich gekleideter Menschen, die der Göttin ihre Gaben bringen. Das Schönste: dies alles ist gewonnene Zeit, irgendwie geniessen wir sie noch mehr.
Am Montag schliesslich können wir unsern Flug umbuchen auf Montagnacht bzw. Dienstag früh. Also haben jetzt noch Zeit für einen Ausflug mit dem Schiff auf die Insel Elephanta. Am Montag sind die Felsenhöhlen zwar geschlossen, aber die Fahrt lohnt sich trotzdem. Ich kaufe eine Halskette, wahrscheinlich sind es nicht echte Korallen, aber sie ist trotzdem schön und kostet fast nichts. Der nette Händler rät mir, die Kette gut in der Tasche zu verstauen wegen der Affen. Ich kann mir nicht recht vorstellen, warum, aber ein paar Schritte weiter taucht so ein frecher Affe aus dem Nichts auf und greift nach meiner Limca Flasche. Wir zerren beide eine Weile daran, er ist aber stärker und macht sich samt Beute davon auf den nächsten Baum. Dort schraubt er seelenruhig den Deckel ab und geniesst offensichtlich das klebrige Getränk.
Später im Hotel packen wir jetzt definitiv unsere Sachen, ein letztes Mal ins Universal und dann bringt uns das Taxi zum Flughafen.
Phir milenge, India!