Herbst 2005
Good Times in Delhi
Mitten in der Nacht landen wir in Delhi, wo uns ein Fahrer zum Hotel Good Times bringen soll. Nachdem wir problemlos die Immigrationsschalter passiert haben, erwartet uns (diese Szene kennen wir bereits aus unzähligen Filme) ein Mann mit einem hochgehobenen Kartonschild, auf dem unsere Namen stehen. Dieser Begleiter und sein Fahrer haben sicher schon stundenlang auf uns gewartet, da wir mit grosser Verspätung gelandet sind. Diesem Begleiter fallen bei der Fahrt durch dunkle Strassen dann auch immer wieder die Augen zu — aber halt, es ist ja gar nicht der Beifahrer, sondern der Driver, der da mit geschlossenen Augen fährt! In Indien gilt ja Linksverkehr, also ist das Steuerrad rechts. Dies ist wahrscheinlich ein kleiner Vorgeschmack auf Indien, in dem alles anders sein soll, sogar blindes Fahren durch dichten Verkehr ist möglich! Die Strassen sind um diese Zeit wirklich erstaunlich belebt. Viele Lastwagen sind unterwegs wegen des Tagfahrverbots für Lorries in Delhi. Horn Please, Good’s Carrier (sogar God’s Carrier fährt auf Indiens Strassen), einmal sehe ich einen Elefanten — alles wie im Traum.
Im Hotel steigen wir in der Lobby über schlafende Angestellte. Das Zimmer hat schwere Vorhänge, einen lärmenden Ventilator und zum Glück ein bequemes Bett. Am nächsten Morgen höre ich schauerliche Geräusche aus dem Badezimmer nebenan, Röcheln, Räuspern, Ächzen, Würgen und Spucken. Aha, ein armer Westler, der wahrscheinlich das indische Essen nicht verträgt. Noch weiss ich nicht, dass es zur indischen Morgentoilette gehört, möglichst allen unreinen Schleim loszuwerden, der sich in der Nacht angesammelt hat. Ein typisches Morgengeräusch in Indien! Dann das erste Essen zusammen mit einer indischen Grossfamilie, die offenbar das halbe Hotel gemietet hat. Die ersten feinen Rotis und Gemüse aus grossen Chromstahlgefässen.
Nun geht es ans Planen unserer Weiterreise: Als Erstes brauchen wir einen Stadt- und einen Fahrplan! Sobald wir mit dieser Mission aus dem Hotel treten, erspäht uns auch schon ein Autoriksha-Fahrer, der genau weiss, wo sich das Tourist-Office befindet und uns flugs dorthin fährt. Von Mr. Mohan zuvorkommend empfangen, verlassen wir das Reisebüro nach kurzer Zeit nicht nur mit einem kostenlosen Stadtplan, sondern auch mit einem nicht ganz kostenlosen Pauschal- Arrangement: 10 Tage Rajasthan inkl. 2 Tage Sightseeing in Delhi mit einem Fahrer, plus Kamelsafari in der Wüste und schliesslich einem Zugsbillet nach Trivandrum! Alles gebucht und im Voraus bezahlt — ziemlich naiv und offenbar noch unter dem Einfluss des Jetlags. Im Lauf des Tages beschleicht uns dann auch ein flaues Gefühl: vielleicht ist alles nur Täuschung, das Reisebüro nur Kulisse (wir haben ja keine Ahnung, wo es sich befindet), Mr. Mohan ein begabter Schauspieler und wir das Geld los.
Govinda Hare
Sightseeing
Zum gebuchten Paket gehört auch «unser» Driver, Mr. Gupta, der uns sofort auf eine Tour mit dem Auto durch Old Delhi mitnimmt. Mr. Gupta ist ein hochgewachsener, grauhaariger, etwas barsch wirkender Herr, der mich ein wenig einschüchtert. Als besonderes Merkmal hat er einen doppelten Daumen, dies verbindet ihn mit dem Schauspieler Hrithik Roshan (den wir natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennen, denn wir befinden uns noch im finsteren Prä-Bollywood-Zeitalter, die Entdeckung des Universums des indischen Films steht noch bevor…).
Mr. Gupta steuert also die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Old Delhi an, und wir absolvieren folgendes Programm im Halbtraum: Red Fort (historischer Wendepunkt: meine erste Masala Dosa!) die grosse Jami Masjid, wo uns ein selbsternanntes Führerlein ein Haar und auch den Fussabdruck des Propheten zeigt. Er hat uns offenbar sofort als Frischlinge erkannt, denn bei unseren späteren Besuchen wird uns das nie mehr passieren. Wir staunenden Bleichgesichter drücken ihm dann auch bereitwillig 150 Rupies für diese Sehenswürdigkeiten in die Hand. Die wunderbare Moschee und die besondere Atmosphäre des grossartigen Ortes nehme ich nur verschwommen wahr, ebenso das überwältigende Treiben auf den Strassen von Delhi: Autos, Rikshas, Velos, elende Zeltsiedlungen, erlesene Saris, Kamele und Menschen, Menschen, Menschen.
Im hinduistischen Birla Tempel dann halbwegs wieder Boden unter den blossen Füssen. Dieses Gewimmel, der Lärm, die Gerüche, das Gefühl, in einer wirklich fremden Welt angekommen zu sein: es ist alles ein bisschen viel für den ersten Tag. Tausend Bilder schwirren im Kopf, in der Nacht Herzklopfen und durchgeschwitzte Laken. Wie schön wäre es jetzt zu Hause!
Am nächsten Tag nehmen wir das Zmorge auf dem Dach des Restaurants ein, unaufhörliches Hupen und Strassenlärm und die rauchige Luft auch hier, unbekannte Vogelrufe, grüne Papageien und Raubvögel. Mr. Gupta wartet mit dem Auto in sicherer Entfernung («don≠t tell anyone in the hotel» hat er gesagt, eine nicht gerade vertrauensbildende Anweisung). Wir fahren zum Reisebüro, das offenbar doch real ist und wo uns Mr. Mohan beruhigt, dass alles bestens sei (allizzwell), die vouchers für die Hotelübernachtungen in Rajasthan vorhanden und das Zugbillett am Abend zum Abholen bereit.
Sightseeing findet heute in New Delhi statt. Als einzige Besucher wandern wir durch Teen Murti Haus, der Wohnsitz von Jawaharlal Nehru, mit vielen Informationen und Fotos zur Geschichte Indiens und einer Ausstellung mit teilweise bizarren Staatsgeschenken. Die gepflegte Gartenanlage mit den schönen Blumenbeeten ist eine ruhige Oase. Weiter zum Gandhi Memorial Museum. In diesem Haus wohnte Gandhiji während seines Aufenthalts in Delhi, und hier wurde er auch ermordet. Die letzten Schritte des Mahatmas vor seinem Tod sind als Fussspuren aus Stein geformt, die Worte von Albert Einstein auf der Gedenktafel treiben mir Tränen in die Augen:
«Generations to come will scarce believe that such a one as this ever in flesh and blood walked upon this earth.» Im Haus viele Fotos, alles sehr bewegend.
Im Haus von Indira Gandhi, der Tochter von Nehru, wieder letzte Schritte vor der Ermordung, diesmal als Fluss aus Glas dargestellt. Die vielen farbenprächtigen Besucher und Besucherinnen betrachten respektvoll die Ausstellung im Museum. Später werden wir ins Railway Museum mit den imposanten Lokomotiven aus der langen Geschichte der Indian Railway gefahren, dann ein feines Thali in einem einfachen Restaurant, das Mr. Gupta empfiehlt. Wir wundern uns, dass er nicht mit uns am Tisch isst. Später werden wir erfahren, dass diese Trennung (fast) immer besteht: hier die Touristen und dort die Driver, die unter sich bleiben. Diese offensichtliche Kluft zwischen oben und unten ist für uns Westler gewöhnungsbedürftig, aber vielleicht sind wir ja auch für Mr. Gupta unerwünschte Tischgenossen mit unseren (vielleicht) unreinen Essgewohnheiten.
Am Nachmittag die weitläufige Anlage Qutab Minar mit dem 70 m hohen Turm (Minar), und Ruinen aus der muslimischen Epoche, teilweise aus Teilen alter Hindutempel gebaut, die menschlichen Gesichter abgeschlagen. Feine Kalligraphien und durchbrochene Gittermuster im Stein und die berühmte Metallsäule (aus der Gupta(!)-Zeit, die nie rostet und Wünsche wahr machen kann. Für mich sind die Menschen ebenso sehenswert wie das architektonische Ensemble. Mich entzückt jeder Sari, die unzähligen Farbkombinationen von Dupatta und Salwar Kameez, die funkelnden Bangles, die strahlenden Gesichter sowieso.
Im Baha’i Lotus Tempel enttäuscht nach dem imposanten Äusseren die sterile Atmosphäre im Inneren, das mich an eine moderne, kühle protestantische Kirche erinnert. Nach der riesigen Anlage Raj Ghat mit den Gedenkstätten von Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru, Indira und Rajiv Gandhi, die alle hier verbrannt wurden, ist dann der Kopf übervoll bzw. Flasche leer. Bei Mr. Mohan holen wir dann die (echt aussehenden) Hotelvouchers ab und erhalten auch das Bahnbillett. Das Misstrauen und die ängstlichen Befürchtungen waren unnötig! Allizzwell und Indien schon ein bisschen vertrauter, nach Hause will ich definitiv nicht mehr.
On the road
Am nächsten Morgen sehen wir vom Hoteldach aus Elefanten vorüberziehen. Mr. Gupta salutiert pünktlich um sieben Uhr (inzwischen hat er das Auto frech vor dem Hotel parkiert). Das eher ältere Modell hat keine Klimaanlage, was angenehm ist und die Rücksitze, die für die nächsten 10 Tage unser Zuhause sein werden, sind mit weissen Leintüchern gegen die schwitzenden Bleichgesichter geschützt. Erste Schweissausbrüche verursacht dann schon das etwas andere Fahrverhalten auf Indiens Strassen. Thömu tauscht seinen Platz neben Mr. Gupta relativ rasch mit dem Rücksitz, vor lauter Zusammenzucken und Augenschliessen bei den furchterregenden Manövern konnte er die Fahrt nicht wirklich geniessen…
Langsam verändert sich die Landschaft, wird karg und trocken, wir sehen Kamelpflüge und Frauen, die Lasten auf dem Kopf tragen, viel Abfall, Elend, aber auch makellos gekleidete Menschen, staubige Dörfer, Tempel.
In Mandawa, in der Shekhawati Region, sind wir in einem fürstlichen Haveli einquartiert. Ein Guide führt uns durch das Dorf, wir besichtigen die typischen Wandmalereien (gelernt: am Schnauz lässt sich erkennen, ob ein Mann Hindu oder Muslim ist. Beim Hindu weisen die Spitzen des Schnurrbarts nach oben, beim Muslim nach unten). Ein Flötenspieler intoniert «Frère Jacques», offenbar hat es hier viele französische Touristen. Thömu löst mit seinem perfekten Hindi Heiterkeit und gute Laune aus, er kauft neue Plastik-Slipper und dann die empfohlenen Pülverli gegen das Elektrolyten-Ungleichgewicht bei Delhi Belly. Lustigerweise werden nicht wir, sondern unser Driver von demselbigen befallen!
Im friedlichen Innenhof unseres Havelis kommt fast ein bisschen Maharani Feeling auf. Ein feines Nachtessen gibt es auf der Dachterrasse des Hotels Shekhawati. Es ist der sechste Tag der zehn Tage dauernden Durga Puja, das Fest zu Ehren der Göttin Durga und dem Kampf des Guten gegen das Böse. Überall hat es Blumengirlanden und glitzernde Bänder. Am Abend versammeln sich die Menschen auf dem geschmückten Platz in Mandawa. Die Gesänge begleiten uns in den Schlaf.
Paläste, Kunst und Kamele
Weiter nach Bikaner, der viertgrössten Stadt Rajasthans. Wir logieren in einer Art White House, dem Princes Palace, da das Haupthotel voll ist mit indischen Kindern.
Sightseeing: Der riesige Lalghar (rotes Haus) Palast des Rajas von Bikaner, in dem ein Hotel und ein Museum untergebracht sind. Viele Fotos aus Zeiten vergangener Pracht, Pomp und englische Sitten, Polo und Jagdbilder (erlegte Tiger und Nashörner), dazu eine Ausstellung wunderbarer Saris und Stoffen. Das Gute daran ist, dass wir ohne verordneten oder selbsternannten Guide alles selber anschauen dürfen! Das ändert sich dann beim Fort. Ein official Guide treibt uns durch die weitläufigen Gemächer und rattert im Stenostil und kaum verständlichem Englisch Masse und Gewichte der eingesetzten Materialien herunter. Es gibt Kacheln aus Delft, Glas aus Murano, Marmor aus Carrara — und überall wunderbare Steinmetzarbeiten und unvollstellbaren Prunk. In der Gruppe sind auch indische Touristen und die immer gleichen Touris cum Driver, die offenbar das gleiche Reiseprogramm absolvieren wie wir. Später folgt noch die Besichtigung der Kamelzucht von Bikaner und dem angeschlossenen Camel Research Center. Die Kamele sind eigentlich Dromedare, one-humped camels und bestens an die Wüstenbedingungen von Rajasthan angepasst.
Mr. Gupta fragt, ob wir an Kunst interessiert seien und führt uns flugs in einen entsprechenden Laden. Bei den malenden Brüdern kaufen wir für teures Geld eine Elefantenminiatur und Thömu bekommt ein winziges Elefäntli und unsere Namen auf den Fingernagel gemalt. Mr. Gupta ist glücklich, denn für ihn fällt natürlich eine Provision ab. Das Znacht im Hotel ist erstaunlich gut, trotz muffigen Ambiente mit dem künstlichen Weihnachtsbaum und dem staubigen Kristall in der Vitrine. Wir sind die einzigen Gäste, der Kellner steht während des ganzen Essens unbeweglich da und starrt uns unverwandt an.
Nach dem Essen gehen wir ins Haupthotel, wo es Internet hat und erfahren vom schrecklichen Erdbeben in Pakistan und Nordinidien. Offenbar waren die Erschütterungen auch in Delhi spürbar, aber, obwohl wir am Sonntagmorgen noch dort waren, haben wir nichts davon bemerkt. Im Halbschlaf wieder Gesang. Durga Puja dauert noch 2 Tage.
Nach dem Breakfast «Oriental Style» fahren wir schon um sieben Uhr los, denn wir haben 320 km bis Jaisalmer vor uns. Wir fahren durch Wüste pur, ab und zu die leuchtende Farbe eines Frauengewands, Hirsefelder (?), runde strohgedeckte Lehmhütten, Kamele, Kühe, total überfüllte Gefährte mit Menschen oder Material, Sand, die unendlich scheinende Ebene. Manchmal taucht ein Velofahrer auf im Nirgendwo oder es erscheinen ein paar Kinder, dabei ist weit und breit keine Siedlung zu erkennen. Mr. Gupta schiebt ein Indie-Kassettli ein und wackelt enthusiastisch mit dem Kopf zur Musik, bei manchen Liedern singt er sogar mit. Er taut zusehends auf, gestern hat er Thömu die Zigaretten gebracht, die im Auto liegen geblieben sind (my friend Thomas forget his cigarette). Leider ist sein Englisch nicht sehr gut, und viele unserer Fragen bleiben trotz seiner Bemühungen unbeantwortet.
Für 20 Rupies gibt’s den Sonnenuntergang
Jaisalmer taucht auf wie aus einem Traum, eine Bilderbuchstadt aus goldenem Sandstein, die auf einem Hügel thront. Unser Hotel ist Luxus pur, sogar ein (nicht wirklich einladender) Swimming Pool ist vorhanden. Ein kurzer Spaziergang durch ein Quartier am Fuss des Hügels ist eher ein Spiessrutenlaufen, sofort sind wir von Kindern umringt, sie rufen reflexartig «Hello what≠s your name rupies school pen» und hängen sich uns an die Fersen. Wir kommen uns vor wie Eindringlinge und kehren rasch zum Hotel zurück.
Dann treibt uns Mr. Gupta zum Gadi Sagar, dem künstlich angelegten See mit seinen Tempeln und Schreinen. Alles sehr malerisch und auch wunderschön, aber auch ein bisschen absurd, wie alle Touristen die zahlreichen Flötenspieler fotografieren, die am Ufer französische Weisen spielen. Dabei sind die filigranen Steinmetzarbeiten wirklich sehenswert, doch die allgegenwärtigen Guides, die sich überall aufdrängen wollen, nerven ein bisschen.
Mit Hundertschaften anderer Touristen geht≠s dann zum Sunset Point. Die Bayern trinken Bier und wir fliehen auf die andere Seite des Hügels, wo der Sonnenuntergang 20 Rupies (plus 10 Rupies für die Kamera) kostet. Unbegleitet gehen wir später durch belebte Gässchen mit vielen Händlern in die wunderbare Stadt. Das Znacht auf einer Zinne mit Lichtermeer und Fledermäusen √ wie ein schöner Traum! Auf dem Heimweg kommen wir an festlich gekleideten tanzenden Mädchen vorbei: der letzte Tag von Durga Puja. Wir genehmigen uns ein Bierchen im Hotelgarten mit dem unnatürlich weichen und üppigen Gras mitten in der Wüste.
Ein schitteres Zmorge für ein Hotel dieser Preisklasse, doch da Thömu an verspätetem Delhi Belly leidet, sind Tea and Toast nicht die schlechteste Wahl.
Auf die Führung durch Jaisalmer will ich zuerst verzichten, bin aber dann doch froh um den Guide, der sehr viel weiss und vor allem gut Englisch spricht. Er ist auch ausserordentlich charmant und will meinen Rucksack tragen («you are old and I am young»), diesem Argument kann auntie ja wirklich nichts entgegen halten! Ich erfahre viel über Kultur und Tradition, Brahmins und Essensvorschriften, Jainismus und Baukunst. In einem Tempel mit einem Shiva Lingam erzählt er, dass ihm erst kürzlich die Bedeutung von Lingam und Yoni als Symbole von männlich und weiblich bewusst wurde, und zwar hätten ihn die Fragen der Touristen darauf gebraucht. Als Kind habe er mit seiner Grossmutter die Rituale durchgeführt und es dann einfach weiter so gehalten, er hatte nie das Bedürfnis, zu «verstehen». Es sei fast ein bisschen erschrocken, als er plötzlich erkannt habe, was die beiden Formen symbolisieren. Ich habe das Gefühl, dass es ihm immer noch ein bisschen peinlich ist, diese offensichtliche Darstellung von etwas, das im heutigen Indien tabu ist.
In einem kleinen Musikladen kaufe ich auf Empfehlung des netten Verkäufers eine CD mit traditionellen Gesängen. Es ist sehr heiss, aber dank der trockenen Wüstenluft erträglich. Den Nachmittag verbringen wir im ventilierten Hotelzimmer und ruhen uns aus. Dr. Gupta hat Curd (Joghurt) und Tabletten verschrieben und auch gleich besorgt und Thömu geht es schon besser. Später stürzen wir uns wieder ins Treiben. Die leuchtenden Farben der Frauenkleider sind eine Augenweide, die Stadt im Abendlicht ein goldener Traum. Nachtessen im Little Tibet Restaurant auf einer anderen Burgzinne. Bei Stromausfall ist alles noch geheimnisvoller √ Mondlicht und Fledermäuse. Thömu begnügt sich mit Schwarztee, sein Bauch braucht noch Ruhe.
Mit Sonja und Raita durch die Wüste
Den nächsten Morgen verbringen wir geruhsam, trinken Tee und kaufen Wasser, der nette Ladenbesitzer, der bereits beim Essen sitzt, öffnet extra für uns.
Am Nachmittag fahren wir dann weiter in die Wüste, stachlige Gewächse, Kamelherden, goldene Limestone-Brocken, Sand und Weite. Als wir in der kleinen Siedlung mit den strohgedeckten Rundbauten ankommen, erwarten uns bereits unsere nächsten Begleiterinnen Sonja und Raita mit ihren Führern: «Camel ist ready for you, Sir». Wie schon so oft wird Madam nicht direkt angesprochen, zuständig ist in allen Lebenslagen nur Sir. Ich gewöhne mich langsam daran, irgendwie unsichtbar zu sein. Es ist manchmal sogar angenehm, die Initiative Thömu zu überlassen, ausserdem ist er viel besser im Feilschen, Organisieren und Verhandeln. Es fällt mir aber auch auf, dass wir bisher kaum mit Frauen in Kontakt gekommen sind, weder im Restaurant noch im Hotel noch in einem der unzähligen kleinen Läden √ und natürlich sind auch die beiden Kamelführer Männer in schönen orangenen Turbanen. Sonja und Raita tragen uns gemächlich zu den berühmten Sanddünen, um einmal mehr einem Sunset beizuwohnen, zusammen mit dem Sunrise ein vielbeachtetes Ereignis für Touristen in Indien. Der kurze Zwischenhalt in der Nähe eines Dorfes ist nicht sonderlich erholsam, Schwärme von Kindern, darunter ein winziges Gnömli mit seiner schwangeren Mutter bedrängen uns für one pen, one rupie oder one chocolate (!). Später taucht mitten im Nirgendwo ein kleines Bürschchen auf mit Pepsi und Beer. In den Dünen versammeln sich dann Hunderschaften von Touristen. Musiker spielen für jeden Gast persönlich mit Namensaufruf einen «Willkommensgruss des Maharajas»… Ein ziemlicher Rummel, und als die Sonne wunschgemäss untergegangen ist, ziehen die Karawanen per Jeep oder Kamel wieder heimwärts. Wir bekommen in unserem Dörfchen eine musikalische Darbietung mit Tanz und ein indisches Buffet mit Spezialitäten aus der Gegend, darunter die Desert Beans, die mich an Dörrbohnen erinnern. Wir schlafen in einem der Lehmhäuser, die Drivers haben es sich auf den Liegen und freiem Himmel bequem gemacht.
Die blaue Stadt
Am nächsten Tag geht es weiter Richtung Jodhpur. Mr. Guptas Worte «Very nice desert!» sind kaum ausgesprochen, als das Auto seinen Geist aufgibt. Sofort werden die Jungs von der (zum Glück) nahen Tankstelle herbeigewinkt und zum Stossen angewiesen, aber aller Bemühungen zum Trotz macht das Auto keinen Wank mehr. Mir fällt auf, wie bereitwillig die Menschen helfen, um dann ohne ein Wort des Dankes wieder «entlassen» zu werden. Das nächste Auto, das zufällig vorbeikommt, wird von Mr. Gupta angehalten, der Fahrer im blütenweissen Anzug besieht sich die Sache, wendet und besorgt ein Seil. Inzwischen hält ein anderer Wagen mit einem All India Permit (und das alles mitten in der Wüste). Wir werden samt unseren Rucksäcken umgepackt und fahren flott im klimatisierten Auto mit Nora, Andrew und ihrem Driver nach Jodhpur, direkt vor das Hotel Heritage.
Unser Zimmer im Hotel ist riesig, hellgrün und mit Weihnachtskugeln an der Decke. Gegen Abend fahren wir mit der Riksha zum Clocktower im Zentrum der Stadt, wo das Leben tobt. Ein vielfältiger Markt, enge Gassen mit jeweils nur Silberschmieden oder Gewürzen, Buchbindern oder Schneidern, Seifen oder Textilien. Wir kommen zu einer Molkerei mit riesigen Kesseln im Halbdunkel, verlaufen uns in den engen verwinkelten Gässchen und werden von hilfreichen Geistern wieder aus dem Gewimmel heraus begleitet. Auf dem Rooftop eines Restaurants führen wir eine eigenartige Unterhaltung mit dem jüngeren Bruder des Besitzers «I am very angry with my life» √ wonach er sich aber sofort bei den göttlichen Instanzen entschuldigt. Das Essen ist fein und der Ausblick auf das Mehangar Fort eindrücklich. Im Hotel ist inzwischen auch Mr. Gupta eingetroffen, er ist mit dem Bus gefahren, das Auto wurde irgendwie zum Mechaniker in Jodhpur transportiert, und er ist zuversichtlich, dass es am nächsten Nachmittag wieder fahrtüchtig sein wird.
Am nächsten Tag besichtigen wir das Meherangar Fort. Mit dem Eintrittsticket gibt≠s Kopfhörer und eine ausserordentlich gute Audioführung mit viel Hintergrundinformationen in gutem Deutsch, sehr spannend gemacht. Dazwischen immer wieder Lobeshymnen auf den heutigen Maharaja Gaj Singh, der offenbar viele karitative Werke unterstützt. Wir besuchen seinen Palast Umaid Bhawan am Nachmittag, ein fast grotesk riesiges Anwesen. Ein Teil ist Privatresidenz, ein Teil Luxushotel, dazu ein kleines Museum.
Im Garten des Hotels gibt es am Abend zwei Feierabendbierchen «for free» (im Austausch gegen ein paar Euros und Schweizer Franken, die der Receptionist sammelt). Wie schon am Abend zuvor wird ein Junge mit dem Velo losgeschickt, das Hotel hat offenbar keine Lizenz und den Bierflaschen werden deshalb diskret Papierservietten-Tarnkappen übergezogen. Mr. Gupta braucht 3000 Rupies Vorschuss für die Reparatur des Autos, er will uns das Geld später wieder zurückgeben.
You go trekking!
Das Auto ist am nächsten Tag dann tatsächlich wieder fahrbereit! Durch immer grüner und hügeliger werdende Landschaft geht≠s Richtung Ranakpur. Bei der wieder sehr beschwingten Fahrweise (Mr. Gupta ist froh, dass sein Auto wieder läuft) geht unterwegs ein Rückspiegel beim Zusammentreffen mit einer Kuh kaputt, sie hat es zum Glück wohl kaum bemerkt. Denn ein Unfall mit einer Kuh käme offenbar sehr teuer zu stehen, teurer als mit einem Menschen! Das Hotel Castle in Rankapur besteht aus mehreren runden Bungalows unter Bäumen, im üppigem Garten wachsen Oleander, Bougainvillea und ein unbekannter Strauch mit wunderbar duftenden cremeweissen Blüten √ eine Erfrischung für die Sinne nach der verschmutzten Stadtluft. Der Jain Tempel ist grossartig, all die Ornamente und Säulen fast zu viel der Pracht. Inmitten der grünen Hügel gelegen ist er so ganz anders als alle Bauwerke, die wir bis jetzt gesehen haben. Auch die Landschaft überrascht, auf Befehl von Mr. Gupta «you go trekking!» besteigen wir einen Hügel mit einem unerwarteten Ausblick auf einen See. Fremde Vogelstimmen, Affen turnen auf den Bäumen, eine farbig gekleidete Familie beim Arbeiten auf dem Feld winkt uns zu. Und dazu gratis ein Sunset nur für uns allein. Zum Znacht, das wir als einzige Gäste im Hotelgarten essen, bestellt Thömu ein Tandoori Chicken. Der Geruch des aasigen Hühnchens lässt Schlimmes erahnen, der Geschmack ebenso. Trotzdem isst Thömu tapfer alles auf, zum Glück hat es keine Folgen. Eine Lebensmittelvergiftung könnten wir nämlich ganz bestimmt nicht brauchen.
Am nächsten Morgen fällt das Ritual von Mr. Gupta etwas länger aus als üblich. Er vollführt jeweils am Morgen vor seinem Altärchen auf dem Armaturenbrett gewisse Bewegungen und Gesten, bis jetzt mit Erfolg, denn Ganesha hat uns ja bisher zuverlässig (fast) alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Wir merken dann auch gleich, wieso er heute besonders gefragt ist: Die Strasse wird immer kurvenreicher und steigt dann an bis zu einem passähnlichen Übergang. Diese Bergstrecke ist definitiv nicht das Ressort unseres Drivers!
James Bond was here
Bald tauchen erste Bananenstauden auf, eine Art Hirse, Palmen, auch Seen mit Lotusblumen. Unser nächstes Ziel, Udaipur, ist eine verhältnismässig aufgeräumte Stadt mit viel Grün am Pichola See. Das erste Mal sehe ich Frauen als Fahrerinnen auf den allgegenwärtigen Motorrollern. Das Hotel India International ist das feinste bisher, offensichtlich wirklich mit einem internationaler Standard. Das erste Mal fehlt im Badezimmer nämlich der kleine Wasserhahn und das Plastikkübeli neben dem WC und es gibt Toilettenpapier.
Wir wollen den den Palast besichtigen, und wir wollen es unbegleitet tun. Dies erklären wir auch dem Führer, der sich uns an die Fersen heftet. Er schüttelt enttäuscht den Kopf und warnt uns, dass wir von einem Besuch ohne seine Erklärungen gar nichts haben werden: «It is like silent movie»! Die stumme Pracht ist uns aber genug, und im Zweifelsfall hilft auch der gedruckte Reiseführer. Wieder ein unermesslich reicher Maharaja und prachtvolle Räume, die Sonnenscheibe als Symbol, dass die Sippe der Singh direkte Abkömmlinge der Sonne sind.
Vor dem Vishnu geweihten Jagdish Tempel, in dem offenbar Szenen des James Bond Film Octopussy gedreht worden sind, sitzen Blumenverkäuferinnen mit Körben voller Rosenblüten und Tagetes. Und dann und wann schreitet ein Elefant vorbei.
Mr. Gupta fährt uns zu einem Park, wo wir ein bisschen durchatmen können. Ich habe mich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, dass wir so lange verweilen können, wie wir wollen und dass er auf uns wartet, wenn es sein muss, auch stundenlang. Aber trotzdem fühlen wir uns immer ein bisschen gehetzt.
Weiter fahren wir in eine Art Ballenberg, ein Freilichtmuseum mit Häusern und Kunsthandwerk aus verschiedenen Regionen Indiens. Einheimische führen Tänze vor und zeigen ihr Handwerk. Da es ausser uns keine Touristen hat, wirkt das Ganze ziemlich trostlos und ich fühle mich nicht sehr wohl in dieser Zuschauerrolle, es hat etwas Voyeuristisches.
Am Abend essen wir in einem der zahlreichen Rooftops, wo fast überall Octopussy in einer Endlosschleife läuft. Das berühmte Hotel auf der Insel im See ist beleuchtet, und der fast volle Mond steht am Himmel.
Wir besuchen den Jagdish Tempel am nächsten Tag. Ein Männchen (natürlich ist auch er im James Bond Film aufgetreten) zeigt uns speziell pikante erotische Darstellungen, offenbar wollen das die Touristen sehen… Die Vishnu Statue mit den leuchtenden Augen wird nach der Zeremonie mit einem goldenen Vorhang verhüllt.
Täfeli aus der Schweiz
Am nächsten Tag geht es schon früh los, zuerst fruchtbares Land, pflügende Bauern, Baumwolle und Tabak, dann wird es wieder karg und wüstenähnlich. Am Strassenrand reiht sich kilometerweise eine Steinwerkstatt mit riesigen Marmor- und Granitblöcken an die andere. In einer Raststätte treffen wir wieder den Driver Kollegen von Mr. Gupta, dem wir schon mehrmals begegnet sind. Im Gespräch stellt sich heraus, dass Raju dieses Jahr im Februar mit Bekannten von uns aus Bern unterwegs war! Wir tauschen Adressen aus, und er bietet uns Schweizer Hustentäfeli an.
Auf dem Highway hat es dann erschreckend viele Trucks, die Fahrmanöver sind teilweise sehr gewagt, aber wir kommen trotz Serpentinen und Steigung heil in Pushkar an. Am Strassenrand fallen mir die vielen Flechthandwerker auf und die schönen Hocker aus Rohr.
In Pushkar beziehen wir einen netten chaletähnlichen Bungalow inmitten von Bananenstauden und Palmen, der heilige See ist nur ein paar Minuten entfernt. Der Tempel in Pushkar ist übrigens einer der ganz wenigen Brahma-Tempel in Indien. Auf den Stufen zum See betrachten wie den Sonnenuntergang zusammen mit vielen anderen Touristen. Überall Tempel und Meditierende, auf der weltlichen Seite des Sees eine Art Hippie-Town mit vielen farbigen Kleidern, indischen Accessoires und Bob Marley Plakaten — ich komme mir definitiv alt vor. Ein feines Nachtessen (strictly vegetarian und alkoholfrei) mit Sicht auf den See, dazu Klänge aus anderen Welten, hare Krishna, hare Rama, hare hare.
Am nächsten Tag besteigen wir einen der hoch aufragenden Hügel. Es ist spät am Nachmittag und wir laufen barfuss über den schönen alten Plattenweg, begegnen Ziegenherden und geniessen den Blick auf die Rosenfelder und das Städtchen. Der Tempel oben ist nicht besonders schön, die Aussicht um so mehr. In der Ebene sehen wir grosse Zeltstädte, die für die bevorstehende Pushkar Camel Fair errichtet wurden. Ein kleiner Imbissstand hat es auf dem Hügel, der Junge, der uns ein Limca serviert, verblüfft mit akzentfreiem Berndeutsch. Offenbar hat er im heissen Sommer 2003 ein paar Monate in Bellach verbracht, er kennt Bern, die Aare und den indischen Laden Aggarwal. Den Sonnenuntergang in dieser Umgebung ist ein Genuss. In dieser schönen ruhigen Stimmung machen wir uns auf den Abstieg und essen im gleichen Restaurant wie am Vorabend.
Ich schaffe es nicht, den See in den frühen Morgenstunden zu sehen, wenn die einheimische Bevölkerung noch fast unter sich ist, Thömu aber schon und er ist beeindruckt. Ein kühler Tag mit frischem Wind, sehr angenehm für die Weiterfahrt nach Jaipur.
Nicht alles rosig in Jaipur
Jaipur ist auf den ersten Blick enttäuschend, die pink City erscheint eher in faden hautfarbenen Tönen gestrichen, sehr viel Verkehr und Staub, der Palast der Winde ein laues Lüftchen. Auf den Fotos sieht er viel imposanter aus als in Wirklichkeit, ausserdem werden wir dermassen von Händlern bedrängt, dass wir nicht lange verweilen vor dem kulissenhaften Hawa Mahal. Durch den chaotischen Verkehr, an vielen Verkaufsständen und Hello hello Rufen vorbei in das grosse düstere Government Imperium. Im schummrigen Halbdunkel sind die angebotenen Artikel nur knapp zu erkennen, aber wir dürfen uns unbedrängt bewegen, da die Angestellten nicht wirklich an einem Geschäft interessiert zu sein scheinen. Mir kommt es sehr entgegen, denn die allzu aufdringlichen Händler ersticken bei mir jede Kauflust im Keim. So schön die allgegenwärtigen rajasthanischen Katputli (Marionetten), die mit Spiegelchen bestickten Kissen und die farbigen Decken auch sind: wir haben noch eine lange Reise vor uns und brauchen wirklich nichts davon. Bei Bangles jedoch werde ich regelmässig schwach, und im Government Shop kaufe ich auch 4 Sets davon in allen Farben. Sie sind ganz besonders gefertigt, mit eingelegten Spiegelsplitterchen, und auf der ganzen Reise werde ich nie mehr gleiche finden. Die hauchdünne gefüllte Paper Dosa im südindischen Restaurant ist dann auch unvergleichlich gut. Eine Rikscha bringt uns zurück ins Hotel.
Zum Ajmer Fort am nächsten Tag begleitet uns ein eher unangenehmer Tour Guide, den Mr Gupta organisiert hat. Anstatt sich per Elefant zum Fort hinauf schaukeln zu lassen, stegen wir zu Fuss hoch. Ein weiterer prächtiger Palast, langsam geraten mir all die glitzernden Interieurs durcheinander. Der schwimmende Garten gefällt mir jedoch besonders gut. Leider hat es schon seit vier oder fünf Jahren nicht mehr geregnet und der Wasserstand des Sees ist sehr niedrig. Im trüben Wasser werden Elefanten gebadet.
Jantar Mantar, das Observatorium in Jaipur aus dem frühen 18. Jahrhundert mit den überdimensionierten Messinstrumenten ist sehr interessant, obwohl ich die Erklärungen unseres Führers nur halb verstehe. Die Zeit, aber auch der Sonnenlauf wird offenbar erstaunlich genau angegeben. Wir finden auch die Tierkreiszeichen. Unser Guide irritiert uns aber zunehmend, er ist ziemlich unfreundlich, ausserdem hat er einen Tic, er berührt alle paar Augenblicke seine Schuhsohlen. Als wir dann noch in einen Teppichladen und in ein unterkühltes Touristenrestaurant mit überhöhten Preisen geschleppt werden und Lunch bestellen sollen, haben wir genug. Madam hat schlimme Kopfschmerzen und muss sich sofort hinlegen! So werden der Führer, der Handleser und die Steinmetz-Demonstration abgewimmelt und wir lassen uns ins Hotel fahren. Mr Gupta ist zwar unmutig, aber inzwischen wagen wir es manchmal, uns unserem strengen Driver zu widersetzen. Wir müssen noch in die Rolle des Sahibs und der Memsahib hineinwachsen, aber richtig wohl fühle ich mich nicht darin und werde es vermutlich auch nie!
Später schleichen wir uns in der Dunkelheit aus dem Hotel und steuern das Hotel Hand an der M.G. Road an. Ich bestelle ein Korma und Thömu ein Murgh, das deutlich anders riecht, als das schlimme Hühnchen in Ranakpur.
Im grossen und ganzen bleibt Jaipur für mich eine Enttäuschung, aber das liegt sicher daran, dass wir in so kurzer Zeit durch so viele «Sehenswürdigkeiten» geführt wurden und ich langsam genug habe von dieser Art des Reisens. Es bleibt kaum Zeit zum Durchatmen und sich geruhsam einem Ort anzunähern. Gerne würde ich mehr vom Alltag der Menschen mitbekommen oder auch einmal Entdeckungen abseits der Touristenziele machen.
Ein Highlight ist dann die Velotour durch den Keoladeo Nationalpark, ein Abstecher auf dem Weg nach Fatehpur Sikri. In herrlicher Ruhe durch die wunderbare Wasserlandschaft radeln ist genau die richtige Art, dieses Stück Natur zu erkunden. Wir sehen Kraniche, Störche und Kormorane, Echsen, einen Schakal, Antilopen, Affen, Wildschweine und Papageien. Weit und breit keine Menschen, der Bettler am Wegesrand entpuppt sich beim Näherkommen als grosser Affe.
Beglückt und müde fahren wir mit dem Auto weiter nach Fatehpur Sikri. Die von Akbar gegründete Stadt erglüht im späten Sonnenlicht. Wir spazieren durch die Geisterstadt mit den interessanten Bauwerken und geniessen die Ruhe. Der Besuch in der Moschee ist dann eher wieder ein Spiessrutenlaufen, aufsässige «Students» lassen keine Ruhe und wollen alles zeigen, ich fliehe entnervt.
In Agra ist es schon dunkel, die Luft rauchig und voller Abgase. Mr Gupta ist angespannt, er mag die Stadt offenbar gar nicht, und Fahren im Dunkeln ist ihm auch nicht geheuer. Das Hotel ist eine positive Überraschung, das Zimmer ist riesig und das Dinner, das wir als späte und einzige Gäste serviert bekommen, ist exzellent.
Das schönste Bauwerk
Der Start am nächsten Morgen ist um sieben, wir wollen dem Taj Mahal früh die Ehre erweisen. Obwohl von unzähligen Bildern bekannt, ist dieser strahlende Bau etwas vom Schönsten, was ich bisher gesehen habe. In der milchigen Luft zuerst wie ein Traum, dann erscheint er immer klarer und schliesslich überwältigend schön — im Nu sind zwei Stunden um, und noch immer haben wir uns nicht satt gesehen. Die vielen Menschen nehme ich gar nicht wahr, sie verschwinden in den weitläufigen Anlagen und werden überstrahlt von diesem Wunderwerk. Nachher wollen wir gar nichts anderes mehr sehen in Agra.
Und am späten Nachmittag heisst es dann: Farewell Mr. Gupta! Er bringt uns zum Bahnhof, und nachdem wir ihm noch ein fürstliches Trinkgeld gegeben haben (wir haben es noch etwas erhöht, da sein Gesichtsausdruck zuerst sehr verhalten war, dann jedoch freudiger und das Kopfwackeln immer lebhafter) besteigen wir den Zug in den Süden. Später werden wir lernen, dass ein fast abweisendes Entgegennehmen von Geld kein Ausdruck von Undankbarkeit ist, sondern normal. Irgendwo habe ich gelesen, dass man an der beiläufigen und fast unfreundlichen Art, wie etwas entgegengenommen wird, erkennt, dass die Gabe als angemessen akzeptiert wurde. Für uns ist überhaupt gewöhnungsbedürftig, dass in Indien kaum Danke gesagt wird in Situationen, in denen wir es erwarten würden. So haben wir immer wieder beobachtet, dass Passanten vom Taxi- oder Rikshafahrer nach dem Weg gefragt wurden, und nachdem sie ausführliche und hilfreiche Erklärungen gegeben hatten, wortlos stehen gelassen wurden. Dies stört niemanden, denn es ist normal, solche Gefälligkeiten zu erweisen, und kein Mensch erwartet eine Dankesbezeugung. Obwohl es das Wort «danyavad» oder «shukria» durchaus gibt, habe ich es kaum gehört. Häufiger ist «thank you», aber dies wird in allen möglichen Situationen gebraucht und nicht immer im eigentlichen Sinn.
45 Stunden im Zug…
Wir verbringen also die nächsten zwei Tage und Nächte in unserem bequemen Two Tiers, das heisst vier Liegen in einem Abteil, eine komfortable Art zu reisen. Immer wieder schallt der Ruf «chai chai chai» oder «cophee cophee cophee» durch den Zug. Essen gibt es auf Vorbestellung oder an den Bahnhöfen. Ob wässriger Dal aus der Zugsküche oder in Zeitungspapier verpackte scharfe Samosas von fliegenden Händlern auf einem Bahnhof: alles schmeckt, und offenbar haben sich unsere Mägen jetzt an das Essen gewöhnt. Verdauungsprobleme auf einer langen Zugsreise stelle ich mir ziemlich unangenehm vor mit jeweils nur 2 Toiletten pro Wagen («Indian Style» und «Western Style»). Wobei zu bemerken ist, dass diese vielbenutzten Orte sehr sauber bleiben bis am Schluss der Reise. Zähneputzen und Katzenwäsche wird am kleinen Waschbecken erledigt, und im Gegensatz zu unseren indischen Mitreisenden, die immer noch frisch aussehen wie in der ersten Stunde, sehen wir Bleichgesichter ziemlich zerknittert aus. Wie die Inder es schaffen, auch unter schwierigen Bedingungen meist gepflegt und adrett auszusehen, erstaunt mich immer wieder! Alle haben immer ein Taschentuch dabei, um sich das Gesicht zu trocknen, ausserdem knittert ein Sari natürlich viel weniger als unsere Blusen und Hosen. Bei den Frauen beobachte ich den multifunktionellen Einsatz von Tüchern aller Art: als Sichtschutz, als Decke, zum Abtrocknen — auf meinen nächsten Reisen werde ich immer ein grosses leichtes Tuch mitnehmen, ideal auch bei schmuddligen Bettlaken und bei stechender Sonne.
Erstaunlich, wie schnell die lange Fahrt vergeht mit Lesen, Sudoku lösen, Schlafen und vor allem zum Fenster-hinaus-Schauen. Die Landschaft verändert sich, wird grüner, Palmen tauchen auf, überflutete Reisfelder, Lotusblumen. Ab und zu sogar ein paar Wolken und ein paar Tropfen Regen. Die Bahnhöfe sind sauberer und weniger chaotisch, alles erscheint ein bisschen freundlicher als im Norden.
Nach etwa 45 Stunden Zugsreise beschliessen wir spontan, nicht bis nach Tiruvananthapuram (Trivandrum) zu fahren, sondern schon in Kochi (Cochin) bzw. Ernakulam auszusteigen. Es ist feucht und warm, und nach ein paar Schritten kleben unsere Kleider schon am Körper. Die Rucksäcke geben wir im Cloakroom zur Aufbewahrung, hier arbeiten Frauen, sie sind effizient und freundlich und wirken selbstbewusst. Erst jetzt wird mir richtig bewusst, dass wir in den vergangenen zwei Wochen praktisch keine Frauen in einer beruflichen Funktion angetroffen haben, weder in Hotels noch in Restaurants noch in den Läden. Zu Fuss machen wir uns auf die Hotelsuche und logieren schliesslich im Saas Tower angenehm und günstig. Das Hotel ist nahe bei der Fähre nach Fort Kochi gelegen. Ernakulam ist eine lebendige Stadt mit vielen Läden (Stoffe, Kleider, Schuhe), die Atmosphäre ist freundlich und für uns ungewöhnlich ruhig, keine «Hallo Hallo» Rufe bedrängen uns Bleichgesichter. So macht es wirklich Spass, sich ungestört in den Läden umzusehen. Thömu kauft ein Paar Hosen und lässt sie sich von den netten Schneiderleuten gegenüber gleich kürzen.
Am Nachmittag stehe ich am Ticketschalter in der Schlange für die Ladies und kaufe zwei Tickets à 2,5 Rupies für die Überfahrt mit der Fähre nach Fort Kochi. Drei gwundrige und kichernde College Girls stellen uns unzählige Fragen, wir lachen viel.
Auf der Insel eine andere Welt: koloniale Holzhäuser, riesige, mit Farnen bewachsene Bäume (rain trees), christliche Kirchen, die berühmten chinesischen Fischernetze am Wasser. Teetrinken und Gespräche über iPod und Kashmir mit einem Teppichhändler, der am Nebentisch seinen Chai trinkt. Mit der Fähre fahren wir zurück an eine andere Anlegestelle in Ernakulam, in der belebten M.G. (Mahatma Gandhi) Road wollen wir essen gehen. Das Restaurant, das der Reiseführer so einladend beschrieben hat, gibt es offenbar nicht mehr. Wir essen deshalb in unserem Restaurant gut und viel, leider gibt es kein Bierchen dazu.
Der Tausendblumenteppich
Am nächsten Morgen fahren wir mit der frühen 06.20 Uhr Fähre wieder auf die Insel und schauen den Fischern zu, wie sie ihre riesigen Netze zu viert aus dem Wasser hieven und wieder herunterlassen. Der Fang ist nicht der Rede wert, nur ein paar kleine Schwänzchen haben sich im Netz verfangen. Ein netter Rikshafahrer bietet eine Tour über die Insel an, inkl. Spice Factory und Elefantentrainingslager, wir verabreden uns für den nächsten Tag. Dann besuchen wir «unseren» Teppichhändler vom Vortag in seinem Laden, verbringen Stunden mit Betrachtungen des Angebots, Verhandlungen mit Tee und Zigaretten. Ein seidener Teppich lockt, wunderbar fein gearbeitet mit prächtigem Blumenmuster und schönen Farben (obwohl wir von Anfang an gesagt haben, dass wir sicher keinen Teppich kaufen wollen…). Stefan aus Bern muss uns die Masse unseres Glastischchens simsen, der Teppich würde perfekt darunter passen. Aber wir wollen das Ganze nochmals überschlafen, denn der Preis ist recht hoch.
Unter einem der grossen Raintrees genehmigen wir uns einen «special tea» (Bier in einer Teekannen-Tarnung), die Mückenschwärme lassen sich durch die Räucherschlangen unter dem Tisch nur teilweise abhalten und stechen sogar durch die Hosenbeine. A propos Hosen: ich habe ein Paar zum Flicken und zum Kürzen gegeben, ich habe mir extra eine Schneiderin (meist sind sonst die Männer als Schneider tätig) in einem einfachen kleinen Tailor Atelier ausgesucht. Als ich die Hosen abholen gehe, ist ein Bein leider viel kürzer als das andere. Ich bin immer noch zu höflich, um zu reklamieren und korrigiere halt später das andere Bein entsprechend mit Hilfe meines Mini-Reise-Nähzeugs. Obwohl die Monsunzeit noch nicht zu Ende ist und es ab und zu heftig regnet, ist dieser Hochwasser-Look doch eher ungünstig. Überhaupt rächt es sich jetzt, Kleider eingepackt zu haben, um die es «nicht schade ist». So fallen wir Bleichgesichter noch mehr ab von den meist makellos und schön gekleideten Einheimischen. Zum Glück habe ich neben den ausgeleierten T‑Shirts noch die eine oder andere Bluse mitgenommen, zusammen mit einem Schal sieht dies doch einigermassen adrett aus.
Am Abend gibt es im Restaurant Seagull zum Znacht den bisher besten Fisch: Red Snapper im Bananenblatt gegart, zitronig und mit feinen Aromen, ein anderer Fisch in Kokos-Gewürzsauce, dazu Reis — exzellent! Zur Vorspeise ein paar Tiger-Prawns in scharfer Sauce. Das Ganze kostet für hiesige Verhältnisse viel (ca. 45 Fr.-), ein Vermögen, denn sonst ist ja das Essen unglaublich billig, ein Gericht ist für 30 und 60 Rupies zu haben (umgerechnet 1–2 Fr.-).
Das Teppichgeschäft schliessen wir am nächsten Tag ab, nach vielem Stirnrunzeln, neuem Berechnen, Discount-Abzügen sind schliesslich alle happy, der Teppich gehört uns und wir nach Aussage des Teppichhändlers ab sofort zur Familie. Später bringt uns einer seiner Angestellten noch eine Packung des sehr feinen Tees vorbei, den wir bei unseren Besuchen in seinem Geschäft fast literweise getrunken haben. Er wird uns den Teppich per Fedex senden. Seither ist der Tausendblumenteppich die Zierde unseres Wohnzimmers, und den Teppichhändler werden wir auf einer späteren Reise nochmals besuchen.
Am nächsten Tag wollen wir mit der Fähre nach Bolghatty, eine andere Insel, fahren. Bei der Ablegestelle spricht uns Dr. Krishnamurti an und lädt uns zu einer Tempelzeremonie ein, die später stattfinden wird. Die Schwester dieses sehr beredten Brahmanen arbeitet zufälligerweise (!) in Bern als Ärztin. Wir trauen diesem karmischen Zusammentreffen nicht so ganz und vermuten (zwischendurch immer wieder mal misstrauisch) eine Touristenfalle. Dr. Krishnamurti will auf uns warten, bis wir von unserem Ausflug von Bolghatty zurückkommen. Aber nachdem wir die Insel mit ihrem heruntergekommenen Golfplatz und den vielen Pärchen, die sich unter den Bäumen näher kommen als in Indien erlaubt ist, besucht haben, nehmen wir einen anderen Rückweg und schleichen uns der Strandpromenade entlang, immer auf der Hut vor dem aufdringlichen Dr. Krishnamurti. In den nächsten Tagen besichtigen wir Mattanchery, die Synagoge, den Spice Market, eine winzige Bibliothek und haben überall freundliche Begegnungen mit den Menschen.
Da es zwischendurch immer wieder mal heftig regnet, verbringen wir auch viel Zeit im Hotelzimmer, schauen Harry Potter in 8 Minuten Abschnitten, unterbrochen jeweils mit exakt 4 Minuten Werbung für Gratis Dental Checkup von Colgate und The Indian Dentists Association, Fertigmahlzeiten und Cornflakes. Die Menschen in diesen Werbespots leben alle in marmornen, lichtdurchfluteten riesigen Villen, wie der typische Inder eben so lebt …
Durch die Zeitung (die in Indien in fast jedem Hotel am Morgen früh unter der Tür durch ins Zimmer geschoben wird) erfahren wir wieder etwas von der indischen Realität: Am 25. Oktober hat es in Delhi einen Bombenanschlag gegeben und in Andra Pradesh ein grosses Zugsunglück, da der Regen die Schienen weggespült hat.
In den Backwaters
Auf Empfehlung des freundlichen Kellners im Seagull buchen wir eine Backwater Tour beim nahegelegenen Office, 24 Stunden Bootsfahrt inklusive Mahlzeiten und Übernachten für 3750 Rupies. Mit dem Bus fahren wir also am nächsten Morgen nach Allepey. Im Bus hat es hat spezielle Plätze nur für Ladies, die Herren stehen gedrängt, so auch Thömu. Glücklicherweise dauert die Fahrt nur eine Stunde.
Beim Backwater Office erkennt uns der junge Mann sofort als angemeldete Kunden, vor allem wegen Thömus «unusual beard», der ihm offenbar beschrieben wurde. Mit der Autoriksha geht’s durch grünes tropisches Land zur Bootsanlegestelle, wo schon unser Traumschiff steht. Wir bekommen je eine Jasminkette umgehängt und das Maharani Feeling verstärkt sich noch, als ich realisiere, dass wir einen Captain und einen Koch für uns allein haben. Die Fahrt beginnt, wir lehnen uns zurück und geniessen. Das Leben der Menschen spielt sich am Ufer des Wassers ab, Kochgeschirr und Kleider werden gewaschen, ganze Schulklassen spülen ihre Essenschüsseln und winken uns zu, andere Hausboote, Fischer, Reisfelder, Kokospalmen, schwimmende Gras- und Wasserhyazintheninseln. Eisvögel, Kormorane, Reiher. Der Lunch ist wunderbar, Fisch mit Kabis- und Gurkengemüse, Reis, Pappadam und in Kokosöl gebackene Ananas. Zwischendurch darf Thömu auch mal ans Steuer.
Bei Einbruch der Dämmerung legen wir an. Hunderte von Flughunden im Abendhimmel, Leuchtkäferchen, Stimmen und Musik vom Ufer. Zum Nachtessen gibt es Ginger-Huhn und scharfen Dal, dazu wieder Reis und Chappatis. «Medium spicy» ist für uns schon recht scharf, aber ausgezeichnet. Und diese Köstlichkeiten bereitet der junge Koch auf einem einzigen Gaskocher zu, alle Zutaten und Geräte befinden sich auf kleinstem Raum am Boden hinten im Boot. Wir schlafen unter dem Moskitonetz im komfortablen Bett und hören in der Nacht den Regen rauschen. Am nächsten Morgen ist es wieder schön, ein nordindisches Kanusport-Team trainiert, vom Ufer die Alltagsgeräusche von Menschen und Tieren. Zum Zmorge gibt es die von Thömu heiss ersehnten Idlis, dazu scharfe Sösschen, Toast und Ananas. Die Fahrt zurück zum Ausgangspunkt der Bootsreise vergeht dann allzu schnell!
In Allepey angekommen beziehen wir ein Zimmer im Hotel Arcadia und verbringen die Zeit der grössten Hitze mit Lesen, Waschen und Sudoku Lösen. Später ziehen wir los Richtung Indian Coffee House. Entlang eines Kanals entsteht offenbar ein Verschönerungsprojekt, viele Männer und Frauen schleppen Steine und Sand. An alten Holzhäusern vorbei kommen wir zum Strand, wo sich bei angenehmem Wind und jetzt bedecktem Himmel viele Inder tummeln. Es ist Diwali und deshalb Feiertag. Das Indian Coffee House liegt direkt am Strand, bei unheimlich dunklem Himmel trinken wir einen süssen, milchigen Kaffee.
Am nächsten Tag machen wir einen Tagestrip auf dem Wasser nach Kollam mit einem «normalen» Schiff. Auf dem zum Glück beschatteten Oberdeck geniessen wir die lange Fahrt (von 10.30 bis 18.30) durch grosse und kleine Kanäle mit einem Essenshalt auf einer Insel. Der Lunch wird auf dem Bananenblatt und ohne Besteck serviert, die Kellner drehen mit grossen Kesseln ihre Runden und klatschen grosszügig weiteres Dal, Gemüse oder Reis auf das Blatt. Roti gibt es im Süden nicht, und Reis mit flüssigen Beilagen mit den Fingern zu essen ist gar nicht so einfach. Und mit der (rechten) Hand alle Zutaten lustvoll zusammenzukneten wie die Inder kostet für mich Überwindung, jahrelange Gewohnheiten und «mit dem Essen spielt man nicht» wirken nach. Ist diese Hürde aber einmal geschafft, macht Essen wirklich Freude. Das anschliessende Händewaschen, sei es auch nur mit einem Becher Wasser, mit dem die Finger über dem leeren Teller abgespült werden, ist unverzichtbar.
Der Reisebegleiter auf dem Schiff erkundigt sich, ob wir schon ein Hotel hätten für die Nacht, sonst würde er uns eine Übernachtung reservieren in einem Resort auf einer Insel, eine special offer natürlich zur Hälfte des regulären Preises. Und schon ist die Buchung gemacht, das Schiff legt bei der nächsten Insel speziell für uns an und wir gehen als einzige Passagiere von Bord. Wir sind auch die einzigen Gäste im Hotel und nehmen das Nachtessen auf der Veranda ein mit Blick auf das Wasser. Die Touristensaison mit ihren Chartergästen fängt erst später an, und wir geniessen die Ruhe, die Geräusche der Grillen und der Nacht.
Varkala
Am nächsten Morgen nehmen wir die Fähre nach Kollam und von dort den Zug für die kurze Strecke nach Varkala. Das Hotel Sea Breeze ist ganz am Ende des Ortes gelegen, mit Blick auf Kokospalmen und aufs Meer (Jahre später ist die Sicht gar nicht mehr berauschend, die Baracken einer Shrimp Farm mit unschönen Blechdächern verdecken die Sicht aufs Meer).
Doch noch sind es die Kokospalmen, die leise rauschen und nicht der Generator der Shrimp Farm. Am Abend klettert ein Mann zum Ernten der Kokosnüsse den Stamm hinauf in luftige Höhe, ein Seil, mit dem er die Füsse zusammengebunden hat, dient als Kletterhilfe. Nebenan gibt es das bezaubernde Restaurant Coconut Grove, am Abend brennen jeweils vielen Kerzen in mit Sand gefüllten Pergamentpapier-Säcklein. Ein Tandoori-Ofen wird im Freien gebaut.
Der Klippenweg zum Tempel ist gesäumt mit kleinen Läden und Restaurants, Kleider, Schmuck, Ayurvedic Massage wechselt sich ab mit Sunny Art Cafe und German Bakery. Alles aber noch ganz entspannt und sympathisch und kein Hotelklotz weit und breit. Um den Tempel herum ist die Atmosphäre dann wieder indischer, wir sehen eine weibliche Saddhu, eine Seltenheit. Später das erste Meerbad am kleinen Sandstrand in der Nähe des Hotels, das Wasser ist lauwarm, die Wellen aber recht hoch und es gibt eine gefährliche Strömung. Wer sich zu weit hinaus wagt, spürt den starken Sog ins offene Meer, und nicht vergebens sitzt ein Bademeister am Ufer und ruft mit seiner schrillen Pfeife die unvorsichtigen Schwimmer zurück. Nachdem die Sonne weit über dem Horizont in einem Dunstschleier verschwunden ist, wird es rasch dunkel, und endlich kann ich meine Taschenlampe brauchen, um über den unbeleuchteten Klippenweg das erstbeste Restaurant anzusteuern. Wir sitzen sehr romantisch auf einer kleinen Terrasse über dem Meer mit Kerzenbeleuchtung und Wellenrauschen.
Am Morgen werden wir früh geweckt durch den (Sprech)gesang des Muezzin von der nahen Moschee im Palmenhain. Es hat Wolken, ab und zu gibt es ein Gewitter und das Rauschen des Regens vermischt sich mit dem der Wellen. Hinter der Moschee führt ein Wege dem Meer entlang an ein paar Fischerhütten vorbei an einen wunderbaren langen weissen Sandstrand, eine Art Düne. Auf einer Seite das Meer, auf der anderen ein See. Es ist so erholsam! Doch ich freue mich auch schon wieder auf «Indien» mit seinem Trubel, seinem Lärm, seinen Gerüchen…
Wir buchen in einem kleinen Reisebüro einen Flug von Bangalore nach Varanasi und von dort Zugtickets im Sleeper nach Delhi. Da wir die Halbzeit unserer Reise bereits hinter uns haben, entschliessen wir uns für eine vermeintlich zeitsparende Reise mit dem Flugzeug.
Doch vorläufig verbringen wir die Tage noch geruhsam, schauen am frühen Morgen den Fischern zu, wie sie mit viel Aufwand und Personal riesige Netze einholen, in denen sich nur ein paar kleine Fischchen verfangen haben. Am Abend zum Feierabend-Bierchen sind wir immer die einzigen Gäste im Coconut Grove. Zwischendurch immer wieder heftige Gewitter, Zeit zum Lesen, da kommt der kleine Shop mit seinem Büchertausch-Angebot wie gerufen. Einmal ein Espresso und ein Brownie in der German Bakery, Bharat kahan hai?
An einem frühen Morgen dann die letzten Spiegeleier und Toasts im Coconut Grove und schon bringt uns die Autoriksha zum Bahnhof, wo wir den Zug nach Kottayam nehmen. Es wird eine kurzweilige Fahrt mit Gesprächen und viel Gelächter, wir treffen Leila Samuel aus Ernakulam mit ihrer Schwester und ihrem Cousin. Sie spricht sehr gut Englisch und wir können viele Fragen stellen, vor allem erhalten jetzt alle die unbekannten Bäume und Gewächse auf den Feldern einen Namen. Wir tauschen Adressen und als wir aussteigen, winken alle und wir fahren beschwingt weiter mit der Rikscha zum Busbahnhof und erwischen gerade einen Bus nach Kumily.
Im Pfefferland
Die vielen Kurven und die sportliche Fahrweise bleiben nicht ohne Wirkung, es wird mir ziemlich blümerant, und nur mit viel Willensstärke und Durchatmen kann ich das Plastiksäckli nach einer gewissen Zeit wieder weglegen und die Fahrt durch das üppige Grün in vollen Zügen geniessen. Die Strasse windet sich empor, Kaffee, Kautschuk-Bäume, später Teeplantagen in akkuratem Schnitt. Immer wieder ein Schlinggewächs, Vanille kann es nicht sein, deshalb nehme ich an, dass es sich um Kardamom handelt — so falsch! Es ist nämlich Pfeffer, wie wir später erfahren werden, wir sind hier im Land, wo der Pfeffer wächst. Kardamom sieht ganz anders aus, auch diese Pflanze werden wir noch kennen lernen.
Bei unserer Ankunft in Kumily bzw. Periyar werden wir von einem netten jungen Mann angesprochen, der uns zu einer Unterkunft bringen will. Wir haben inzwischen gelernt, nichts zu überstürzen, zuerst mal einen Chai zu trinken und erst dann zu entscheiden. Dieser junge Mann ist aber sympathisch und nicht aufdringlich, also gehen wir mit ihm zum Green View Homestay. Inzwischen sind die besseren Zimmer schon belegt durch nordindische Touristen, die ihre Diwali Ferien hier verbringen. Für uns hat es noch ein einfaches Zimmer, sehr sauber und angenehm für sage und schreibe 200 Rupies pro Nacht. Das Badezimmer ist ausserhalb in einer Art Veranda, es wird aber nur von uns benutzt. Was wollen wir mehr!
In Babus kleinem Reisebüro buchen wir dann noch eine Spice Tour für den nächsten Tag (Kardamom! Pfeffer!) und eine Boat Tour im Naturschutzgebiet für den übernächsten. Am Abend esse ich das erste und einzige Mal auf allen unseren Indienreisen Nudeln — das recht aufdringliche Kokosöl gnüegelet mir schon nach ein paar Bissen. Spaghetti in Indien ist definitiv keine gute Wahl!
Auf die Spice Tour gehen wir mit einem anderen Schweizer Paar, die wir am Morgen in Chrissie’s Restaurant treffen, wo sie Müesli essen — auch diese kulinarische Erfahrung haben wir in Indien nie gemacht, und ich habe auch nicht im Sinn, dies nachzuholen. Es gibt schliesslich Dosas, Parathas, Puris, Idlis… Das indische Zmorge ist mir noch nie verleidet! Die beiden Müeslis sind jedoch sehr nett und die ganze Tour, die wir mit dem Jeep mache, ein Highlight. Thomas kann mit seinem Wissen über Kaffee brillieren (Arabica, Robusta — er hat schliesslich seinerzeit im Weltladen Kaffeedegustationen gemacht und weiss viel über Anbau und Verarbeitung). Dieser indische Kaffee wird es wahrscheinlich nie in unsere Läden schaffen, und die Qualität kann ich nicht beurteilen. Der süsse milchige heisse Cophee im Indian Coffee House ist nicht unbedingt das, was bei uns, wo die Barristas plötzlich so angesagt sind, unter Kaffee verstanden wird. In der winzigen Kaffeerösterei kaufen wir trotzdem ein Pfund Bohnenkaffee.
Wir besuchen dann einen kleinen Familienbetrieb, der biologisch wirtschaftet und sehen hier die schilfartigen, grossen Kardamompflanzen. Die Kardamomkapseln wachsen erstaunlicherweise an einer Art Rhizom knapp über dem Boden. Wir sehen, wie sie nach der Ernte in einer Trocknungsanlage auf Gitterschubladen über dem Holzfeuer getrocknet (geröstet?) werden. Um das Wohnhaus eine vielfältige Pflanzenwelt, «Insulinpflanze», Edelraute, Jackfruit, Pfeffer, Kakao, Ginger, Kurkuma — das Licht unter den hohen schattigen Bäumen ist gebrochen, die Stimmung geheimnisvoll. Später erfahren wir im Connemara Tea Garden alles über den Tee, von der Ernte über die Fermentation, das Hacken, das Trocknen über der Hitze, das Aussieben der verschiedenen Qualitäten (die verschiedenen Flushs).
Als letztes noch der Ayurvedic Garden, bei der Führung mit dem Kräuterdoktor komme ich voll auf meine Rechnung: so viele unbekannte Heilpflanzen, ausserdem «show plants» wie Dahlien und Zinnien. Ich könnte stundenlang den Erklärungen des Doktors lauschen. In seiner skurril eingerichteten Praxis mit den vielen geheimnisvollen Schälchen, den Barbiepuppen und dem Plastiktannenbaum wird uns noch ein bitterer Trunk serviert: «good for your health». Diese Spice Tour hat sich wirklich gelohnt! Leicht gerötet von der Sonne (wir waren den ganzen Tag im offenen Jeep unterwegs) und sehr hungrig verdrücken wir am Abend reichlich Vegetable und Chicken Biryani.
Am nächsten Tag müssen wir früh aus dem Bett, der Rikschafahrer holt uns schon um 6.15 ab (unsere «guides» sind schon um 4.00 angestanden, um Bootsbillette für uns zu besorgen). Die Boote sind denn auch entsprechend voll, viele laute indische Familien, die für uns fast die interessanteren Studienobjekte sind als die spärlich vertretene Tierwelt am Ufer des Stausees. Immerhin sehen wir Wildschweine, Hirsche, Eisvögel, Reiher und Kormorane. Weit und breit kein Elefant, aber bei dem fröhlichen Lärm, der über den glatten See und die Dunstschleier dringt, zeigen sich wohl keine scheuen Wildtiere. Die Bootsfahrt ist trotzdem schön, das Licht, die Nebelschwaden, die Sonne, die abgestorbenen Bäume im stillen Wasser.
In einem einfachen Beizli mit Holzfeuer gibt es später für Thömu endlich die ersehnten Idlis und für mich eine Dosa, die der Dosawallah geschickt auf der Steinplatte über dem Feuer macht. Nach einem Telefon nach Kannur, wo wir eigentlich ein Spice Projekt besuchen wollten ist klar, dass wir unser Programm umstellen müssen, denn die Masala Produktion beginnt erst im Januar. Schade, denn gerne hätten wir gesehen, wo und wie die Gewürzmischungen produziert werden, die im Weltladen verkauft werden. Also planen wir um: Madurai in Tamil Nadu heisst das nächste Ziel. Vorher bringen wir noch unsere Einkäufe zum Schneider, der unsere Gewürzpäckli in Stoff einnäht, so kann es sicher nach Hause gesendet werden.
Sri-Minakshi-Sundareshwara
Der Bus fährt ennet der Grenze in Tamil Nadu ab, viele hilfsbereite Geister weisen uns den Weg. Zum Glück sind wir früh dran, denn der Bus wird zunehmend voll. Viele Kurven bergab, dann wird die Landschaft flach, es tauchen wieder Reisfelder auf, Kokospalmen und Bananenstauden. Die Dörfer sind sehr belebt, es hat viele Tempel und Blumengirlanden, alles scheint aber ärmlicher als in Kerala.
In Madurai ist es heiss und staubig, nach einem Chai bringt uns eine Riksha ins Sree Devi Hotel, wo wir das oberste Zimmer mit Dachterrasse und grossartigem Blick auf die Gopurams des Meenakshi Tempels beziehen. Diese Tempeltürme sind reich verziert, um nicht zu sagen überbevölkert: phantastische Figuren, Säulen und Friese, Ornamente und Fabelwesen in hellblau, hellgrün, orange und gelb. Vom frühen Morgenlicht bis zur Dämmerung sehen wir die Gopurams in den nächsten Tag, Licht und Schatten lassen immer neue Details hervortreten und beleuchtet sind sie in der Nacht besonders geheimnisvoll. Den ersten Abend verbringen wir auf unserer Dachterrasse mit einem netten Engländer, trinken ein Kingfisher und lassen uns verzaubern von den schwebenden Gesängen aus dem Tempel und den strahlenden Türmen. Das Nachtessen, das uns vom Hotel serviert wird, ist nicht so berauschend wie die Aussicht, fader Reis und Ketchup im Beutel(!). Auf die «special cigarettes», die uns das eigenartige Hotelfaktotum andrehen will, verzichten wir lieber.
Dafür gibt’s im Modern Restaurant am nächsten Tag feine Masala Dosa zum Zmorge. Wir sind früh auf, Thömu lässt sich die Haare schneiden und ist anschliessend nicht wieder zu erkennen: glatthaarig und gescheitelt! Offenbar wurde ihm der «German cut» verpasst, einer der angebotenen Haarschnitte, die zur Illustration auf dem reizenden handgemalten Plakat die Männerköpfe schmücken.
Im wunderbaren Meenakshi Tempel vebringen wir Stunden, am Teich mit dem goldenen Lotus sprechen wir mit netten jungen Indern und tauschen Adressen. Das lebhafte Geschehen im Tempel ist für uns eher verwirrend, aber fasziniert sehen wir den Menschen zu, wie sie ihre Handlungen verrichten, «Idols» umkreisen (ein Tempelchen ist den Planeten gewidmet, ich entdecke Sonne, Mond, Mars und Saturn), sich vom Tempelelefanten segnen lassen. Die geschäftige Atmosphäre hat so gar nichts Abgehobenes, die Rituale scheinen vertraut und alltäglich für die Tempelbesucher. Und wir Fremde sind staunend mittendrin und werden überhaupt nicht beachtet.
Später besuchen wir das Gandhi Museum im modernen Teil von Madurai, die eindrückliche Ausstellung zeigt in Bildern und Texten die Geschichte der Unabhängigkeit Indiens.
Nach all den Eindrücken ist unsere Dachterrasse Gold wert, der Blick auf die Türme immer wieder anders im Licht, dazu das monotone Singen aus dem Tempel, das Hämmern und Hupen gedämpft, Jasmin- und Kuhfladengerüche und Schwalben in der Luft. Später lasse ich mich von einem der vielen Schneider in sein Atelier führen , «just looking» natürlich bleibt es nicht dabei. Ich gebe einen Nähauftrag für einen langen orangen Jupe aus Rohseide und eine leuchtend grüne Bluse, die ich bereits am nächsten Tag abholen kann (und leider zu Hause nie tragen werde …) Dann entscheide ich mich im Schmuckgeschäft, in das wir am Vortag gelockt worden sind (beste Sicht auf den Tempel vom Dach aus!) für den teuren Diamantring, den ich zuerst gar nicht will, da er mir viel zu pompös erscheint. Ist er aber eigentlich gar nicht, diesen Kauf habe ich nie bereut, und ich trage den Ring seither ständig.
So viel Kaufen macht hungrig, wir essen Gemüsecurry und Reis auf einem netten Rooftop. Später laufen wir zu Fuss zum Thirumalai Nayak Palace, sitzen im Schatten der etwas heruntergekommenen Pracht, gurrende Tauben überall. Ein ehemaliger Prachtssaal ist als Museum eingerichtet. Am Abend findet hier eine Sound and Light Show statt, die wahrscheinlich die prunkvollen alten Zeiten aufleben lässt. Da wir aber weiterreisen werden, reicht die Zeit für dieses Spektakel nicht.
Dafür besuchen wir noch ein letztes Mal den Meenakshi Tempel und auch das Museum mit vielen vielen Säulen und Götterstatuen im schummrigen Licht. Nach einem Znacht auf dem Rooftop Restaurant steigen wir in den 22.50 Zug nach Coimbatore. Es regnet stark und ich schlafe herrlich auf der obersten Liege im 3‑Tiers.
Um 4.45 kommen wir in Coimbatore an, es reicht gerade für den Anschluss an den Nilgiri-Express (und dies auch nur dank einem netten Officer, der Thömu aus der langen Schlange vor dem Männer-WC erlöst und auf die Damenseite geschickt hat). Wir wussten nicht, dass die Zeit so knapp ist, aber wie so oft in Indien lässt uns der geheime Regisseur unserer ganz persönlichen «Truman Show» nicht im Stich und schickt einen Helfer…
Nilgiri Mountains
Wir reisen weiter in der Holzklasse, die Morgendämmerung kommt schnell, draussen viel Grün und angenehm kühl. In Mettupalayam wartet schon der Hogwarth Express bzw. der Blue Mountain Nilgiri Passenger Express mit Dampflok und historischen Waggons. Wir reisen mit einer netten Familie aus Chandigarh im ersten Abteil vor der Lok, die den Zug stösst. Im Tunnel, von denen es viele hat, müssen wir jeweils schnell die Fensterscheiben hochkurbeln, da sich sonst das Abteil im Nu mit beissendem Rauch und funkenstiebender Hitze füllt. Die Strecke führt über Brücken und durch Tunnels, draussen Jungle und Wasserfälle, Teegärten, Orangenbäume und Gemüseterrassen. Es wird immer kühler, der Zug windet sich bergwärts, das erste Mal werden Pulli und Jacken ausgepackt in Indien!
In Ooty regnet es, und zum Glück hat es im Hotel 3 Wolldecken pro Bett, denn jetzt ist es richtig kalt. Die Inder mit Mützen und Halstüchern sind ein ungewohnter Anblick. Wir spazieren zum See und ein bisschen durch den Ort, aber vorläufig erschliesst sich mir der Reiz dieser Hill Station noch nicht ganz. Obwohl die Landschaft schön ist, könnte es auch Adelboden oder so an einem regnerischen Tag sein. Ausserdem bin ich hundemüde und habe wahrscheinlich einen kurzen Fieberschub. Dank Dafalgan und kurzer Bettruhe geht es mir jedoch erstaunlich schnell wieder besser, und die Nudeln im chinesischen Restaurant sind als Abwechslung genau das Richtige. Dazu stehen sehr unauffällig in Papier verpackte Bierflaschen auf dem Tisch, damit wir heimlich und ein bisschen verschämt unserer Sucht frönen können.
Es regnet noch immer, und endlich kommen die Regenjacken zum Einsatz — wir haben sie doch nicht vergebens mitgeschleppt. Auch die Strumpfhosen, die ich in der Sommerhitze mit Grausen betrachtet habe, sind willkommen, ausserdem auch alle verfügbaren Jacken und Pullover. Es ist wahrscheinlich gar nicht so kalt, aber wir sind uns diese Temperaturen nicht mehr gewöhnt. Dafür ist der Schlaf gut und lang, und am nächsten Morgen scheint die Sonne und die Luft ist klar und frisch. Feine Dosas und Idlis zum Zmorge und dann in den weitläufigen botanischen Garten. Er könnte auch in England sein mit dem Cottage und den gepflegten Anlagen.
Später gehen wir auf die Pferderennbahn, sitzen auf der spärlich besetzten Tribüne, hören dem aufgeregten Kommentator zu und warten auf die Pferde. Erst nach und nach wird uns klar, dass hier gar keine Pferde laufen werden, die Stimme und die Anfeuerungsrufe der Zuschauer kommen aus einem der Fernsehgeräte, die die Direktübertragung der Rennen aus Hyderabad und Bangalore zeigen! Gewettet wird aber trotzdem und wir schauen lange dem interessanten Treiben zu.
Zum Cafe Latte gibt es Brownies, überall wird auch Homemade Chocolate angeboten. Seltsam: wochenlang haben wir Süssigkeiten überhaupt nicht vermisst, aber jetzt haben wir dauernd Gluscht nach Schokolade und können dem Angebot nicht widerstehen.
Im grössten Rosenpark Indiens ist von der Schönheit dieser Blumen nicht viel zu sehen, die Nässe und Kälte scheint den Rosen nicht zu gefallen. Für die indischen Touristen sind wir unansehnliche Westler offenbar das attraktivere Fotomotiv als die Botanik, von überall werden wir herbeigewinkt und müssen uns in unzähligen Kombinationen mit Familienmitgliedern aufstellen und fotografieren lassen. Zuerst ist es noch ganz lustig, aber mit der Zeit planen wir unsere Schritte in der weitläufigen Anlage sorgfältig, um den vielen Fotofallen zu entgehen. Alles blüht gleichzeitig: Rosen, Holunderbüsche, Kamelien und Dahlien. Es regnet jetzt nicht mehr und Ooty bietet schöne Ausblicke auf die umliegenden Hügel.
Kuch Kuch Hota Hai
Am Morgen scheint wieder die Sonne und der Regisseur unserer ganz privaten Truman Show hat offenbar die Absicht, nochmals das perfekte Drehbuch umzusetzen. Nach den feinen Idlis im hoteleigenen Restaurant begeben wir uns zur Bus Station, wo gerade ein luxuriöses Gefährt mit Ziel Bangalore vorfährt. Wir steigen ein und nach ein paar Minuten fahren wir mit wenigen anderen Reisenden los, durch terrassiertes Bergland und dann durch ein Naturschutzgebiet. Trotz lautem Video (schliesslich ist es ein Deluxe Bus) ist die Fahrt wunderschön, ich sichte sogar zwei Elefanten und ein paar Pfauen. Später wird die Landschaft wieder flach, Reisfelder, Zuckerrohr und Kokospalmen. Als ich mich draussen satt gesehen habe, lasse ich mich widerwillig auf den zweiten Bollywood Film ein, der inzwischen im Buskino läuft. Trotz fehlender Untertitel bin ich schliesslich ganz gebannt und bedaure, dass wir nach 4 Stunden Fahrt in Mysore aussteigen müssen und ich das Ende verpasse. Der Klassiker, seither unzählige Male gesehen: KKHH (oder für Anfänger wie mich damals: Kuch Kuch Hota Hai). Kaum zu glauben, dass es einmal ein Leben ohne Hindi Filme gab…!
Mit der Riksha fahren wir zum guten Hotel Bombay Tiffany und machen uns dann zu Fuss auf Entdeckungsreise. Mysore ist eine lebendige Stadt, trotzdem angenehm ruhig mit sehr schönen Alleen und einem farbenprächtigen Markt. Dort kaufen wir bei zwei Brüdern, die sogar etwas deutsch sprechen, ein ganzes Schatzkästchen mit Duftölen und erhalten dazu noch selbstgerollte Räucherstäbchen. Zum Znacht wieder auf einem Rooftop, feines Alu Palak, Chicken Tikka, Reis und Raita.
Am nächsten Morgen früh auf und durch die Morgenfrische und ruhige Strassen zum Palast, wo wir die Elefanten baden sehen. Später zusammen mit vielen indischen Touristen und Schulklassen durch die Palastanlagen, manchmal scheinen wir uns in Theaterkulissen zu bewegen, vor allem die dicken türkisfarbenen Säulen erinnern mich irgendwie an den Spiegelsaal in Luzern. Nach einer Siesta im Hotel und Anstehen bzw. ‑sitzen für die Tickets nach Bangalore essen wir im Parklane Hotel mit Live Musik und vielen Grünpflanzen. Sonnenstrahlen scheinen am nächsten Morgen ins Hotelzimmer, unterwegs zum Busstand essen wir in einer kleinen Dhaba Dosas und Idlis zum Zmorge.
Da es keine guten Busverbindungen zum Keshwara Tempel in Somnathpur gibt, organisiert uns der nette geschäftstüchtige Rikshafahrer, der uns bereits am Montag zum Hotel gefahren hat, ein Taxi. Die Landschaft ist paradiesisch, mit blühenden Zuckerrohrfeldern, Kokospalmen, intensiv grünen Reispaddies, dazwischen Flüsse und Seen mit Lotosblumen, kleine Dörfer, Ochsengespanne. Der Tempel mit dem sternförmigen Grundriss ist ein Highlight. Unzählige Figürchen, Elefanten und sogar Bananenblüten aus Stein, Vishnu in verschiedenen Erscheinungsformen (Avatare). Immer noch muss ich die 9 bzw. 10 Avatare nachschlagen, dabei ist es gar nicht so schwierig, sich die Reihenfolge zu merken, teilweise entspricht sie (am Anfang jedenfalls) der Evolution des Lebens: Vishnu als Fisch, als Schildröte, als Eber, als Löwenmensch, als Rama mit der Axt, als Rama, König von Ayodha, als Krishna, als Buddha und schliesslich als die kommende 10. Inkarnation Kalki .
Weiter nach Srirangapatna, der dortige Tempel ist eher düster und die dicklichen Brahmanenpriester recht arrogant. Die Vishnu Statue ist interessant, da sie liegt, und zwar auf der zusammengerollten Schlange. Später der Sommerpalast von Tipu Sultan in der symmetrischen Gartenanlage mit schattenspendenden Bäumen, der Pavillon wirkt luftig und heiter. Der Taxifahrer bringt uns noch zu einem der vielen Läden, die Sandalwood in allen Formen und Aggregatszuständen anbieten, wir kaufen einen kleinen Ganesha aus dem fein duftenden Holz.
Den letzten Tag in Mysore verbringen geruhsam mit Imbiss in einem Rooftop, beobachten das lebendige Treiben auf den Strassen und, nachdem wir ein schattiges Plätzchen in einem Park gefunden haben, auch die komplizierten Rituale des Waschens, Mundspülens und Ausspuckens an den öffentlichen Brunnen.
Im vornehmen gekühlten 2‑Tier Abteil geht es dann nach Bangalore, wo uns ein rasender Rikshafahrer zum Flughafen bringt, denn wir wollen ausnahmsweise per Flugzeug weiterreisen, um die verbleibende Zeit in Indien optimal auszunützen. Ein Fehler, wie sich zeigen wird, denn wir verbringen eine lange ungemütliche Nacht sitzend auf kalten Gitterstühlen in der überfüllten Wartehalle — keine Chance, sich irgendwo auszustrecken. Anstatt um 6 Uhr startet unser Flugi dann erst um 9 Uhr. Nach dem ereignislosen Flug mit schönem Blick verpassen wir in Delhi natürlich den Anschlussflug nach Lucknow, und da der spätere Flug ausgebucht ist, nehmen wir kurzerhand ein Taxi.
Nachtzug nach Lucknow
Der gesprächige Fahrer, der uns die morgendliche Anrufung an Lord Ganesha vorsingt, bringt uns zur New Delhi Railway Station, wo wir zwei Plätze für den 22 Uhr Nachtzug nach Lucknow buchen.
Jetzt müssen wir die Wartezeit irgendwie verbringen. Ein Rikshafahrer soll uns zu einem Tempel bringen, er verfährt sich und so kommen wir zu einer schönen Stadtrundfahrt. Der Tempel ist schnell besichtigt, es wird schon dunkel und weit und breit ist keine Riksha in Sicht. Dafür bringt uns ein hilfsbereiter junger Mann zum Bahnhof, natürlich erzählt er uns seine triste Lebensgeschichte («please help me, you are sent from God»). Wahr oder nicht: da er uns sicher zur Railway Station gebracht hat, lassen wir für die guided Tour 300 Rupies springen. Die Segenswünsche unseres Guides begleiten uns, und so hoffen wir, dass unser Reiseglück auch noch für die letzten Tage in Indien anhält. Im Zug falle ich sofort in einen Tiefschlaf und habe das Gefühl, noch nie so bequem gelegen zu haben.
Am Morgen früh kommen wir in Lucknow an und beziehen im Hotel Vishvanath ein Zimmer. Thömu fühlt sich kränklich, er hat Halsweh und Fieber. So mache ich mich allein auf zum Bahnhof und besorge Billetts für die Fahrt nach Varanasi am nächsten Tag. Im Bahnhof Restaurant komme ich ins Gespräch mit einem netten englischen Paar, er ist an der Universität in Lucknow und spricht zu meiner grossen Bewunderung Hindi.
Zurück im Hotel bringt der Room Service Omelette und Kaffee, wir bleiben im Zimmer und sammeln Kräfte für die Weiterreise nach Varanasi. Die brauchen wir am nächsten Tag dann auch!
Da wir in der Second Class keine Sitzplätze reservieren konnten, machen wir es wie die Einheimischen: wir fahren die Ellbogen aus und stürmen den einfahrenden Zug. In unserem Abteil drängen sich dann mindestens doppelt so viele Reisende wie es verfügbare Sitze hat, aber mit viel gutem Willen finden alle einen (allerdings nur mässig bequemen) Platz.
Wieder einmal staune ich über die Beweglichkeit und die klaglose Anpassungsfähigkeit der Inder/-innen! Das zarte alte Mütterchen faltet sich zusammen, bettet wortlos seinen Kopf auf meinen Schoss, schliesst die Augen und rührt sich nicht mehr. Auch die anderen Mitreisenden fallen schnell in einen Tiefschlaf, während wir ungelenken Westler bald nicht mehr wissen, wie wir unsere Glieder einigermassen schmerzfrei und platzsparend drapieren können. Das Geruckel des Zugs wirkt aber beruhigend und einschläfernd. Wenn nur diese einsetzenden Halsschmerzen nicht wären… Es zieht zum offenen Gitterfenster herein, und auch der Schal um den Kopf kann die kalte Zugluft nicht abhalten. Ausserdem freue ich mich nicht wirklich auf Varanasi, und je mehr wir uns der Stadt nähern, desto kränker fühle ich mich. Ich glaube tatsächlich schon den Rauch der Verbrennungsfeuer zu riechen — wohl eine Nachwirkung des (im übrigens ausgezeichneten) Buchs: «Looking Through Glass» bzw. «Die Reise nach Benares» von Mukul Keshavan, der diesen Geruch so drastisch beschreibt.
Varanasi
Ziemlich erschöpft kommen wir in Benares/Varanasi an und lassen uns von einer Riksha in ein Hotel fahren. Der umtriebige Manager vermittelt uns sofort eine Bootsfahrt auf dem Ganges am Abend, denn trotz geschwächter Gesundheit wollen wir schliesslich möglichst viel von Varanasi sehen.
Zuerst bleiben wir aber ein Weilchen auf der Dachterrasse und sehen den vielen Drachen zu, die im dunstigen Himmel tanzen. Wir kommen mit einem indischen Gast ins Gespräch, der Thömu auf das Rauchen anspricht und ihm rät, doch mit dieser ungesunden Gewohnheit aufzuhören. Er erzählt uns, wie er sich entschlossen hat, aufzuhören. Er schildert eindrücklich eine klassische «Eines-Tage-schaute-ich-in-den-Spiegel-und-sagte-zu-meinem-Spiegelbild-Szene» (berüchtigt aus vielen Filmen). Offenbar hat er seit diesem Gespräch tatsächlich nie mehr geraucht, er war damals fünfzig Jahre alt. Es treffe sich also gut, dass Thömu im gleichen Alter sei. Wir lachen, aber wie es so ist in Indien: die Zigarette an diesem Abend wird Thömus letzte sein, nach dieser schicksalshaften Begegnung gibt er tatsächlich das Rauchen auf.
Später dann die nächtliche Bootsfahrt auf dem Ganges, wir sehen die allabendliche Aarti, die Lichterzeremonie mit Gesängen und Musik und die etwas unheimlichen brennenden Holzstapel am Burning Ghat («you can see dead bodies»). So wie unser Bootsführer es ankündigt, sind diese offenen Leichenverbrennungen die Hauptattraktion für die Touristen. Mir wird es alles ein bisschen viel, auch die in Tücher eingewickelten Toten muss ich nicht unbedingt aus nächster Nähe sehen. Ausserdem fühlt sich Thömu gar nicht gut und hat offensichtlich Fieber. Zuhause im Hotel will ich nur ins Bett, und mir fehlt auch die Energie, die bereits geplante Fahrt mit unserem Bootsmann für den nächsten Tag (ein weiterer Sonnenaufgang, diesmal auf dem Ganges) abzusagen.
So klopft am nächsten Morgen früh der in eine Decke gehüllte Fährmann über den Hades an die Zimmertür und huscht wortlos voran durch dunkle Gässchen Richtung Fluss. Ich folge schicksalsergeben dem verhüllten Charon, und es kommt mir wirklich ein bisschen vor wie eine Reise in die Anderswelt. Es ist kalt auf dem Fluss und dunkel, ich fühle mich elend und der Sonnenaufgang bringt auch keinen Trost. Auf die Burning Ghats kann ich verzichten, ich will nur noch zurück ins Leben und ins warme Bett.
Thömu hat inzwischen recht hohes Fieber. Mit Hilfe des Hotelmanagers finde ich eine Apotheke und kaufe fiebersenkenden Medikamente, ausserdem Bananen und Wasser. Ich fühle mich inzwischen auch ziemlich krank und kann keine neuen Eindrücke mehr aufnehmen.
Und so bleibt von Varanasi nur ein verschwommenes Bild zwischen Traum und Wirklichkeit. Irgendwann machen wir noch einen Spaziergang, Thömu geht es inzwischen wieder besser, ich trotte nur willenlos hinterher und sehe nichts von der faszinierenden Stadt.
Am Abend der Abreise nach Delhi ist es mir dann so schlecht, dass ich für die nächtliche Zugsfahrt das Schlimmste befürchte. Doch sobald uns die Riksha durch den unglaublichen Verkehr an den Bahnhof gebracht hat, klettere ich auf meine Liege (der Lieblingsplatz: das obere Bett auf der Seite des Gangs), schliesse den Vorhang und falle in einen Tiefschlaf.
Phir milenge!
Am nächsten Morgen bin ich müde, aber wieder gesund. Wir checken ein im Hotel Fifty Five (der Name eine echte Herausforderung für jeden Inder: phiphty phiphe) am Connaught Place bzw. Rajiv Chowk und erholen uns im fensterlosen Zimmer.
Thömu ruft Mr. Gupta an, der dann auch prompt erscheint und uns am nächsten Tag mit seinem Auto zum Flughafen bringen will. Er scheint sich echt zu freuen, uns wieder zu sehen und wir freuen uns natürlich auch. Es ist ja eine Ewigkeit her, dass wir unter seinen Fittichen unsere ersten Schritte in Indien gewagt haben!
Souvenirs kaufen im Government Emporium und in Pahar Ganj ein billiges Rollköferli, damit wir unsere Sachen, vor allem natürlich das wunderbare Chromstahlgeschirr verstauen können, dann das Abschiedsessen im United Coffee — an dieser Tradition am Ende unseres Indienaufenthalts werden wir künftig (fast) immer festhalten.
Am nächsten Morgen früh erscheint zuverlässig unser Mr. Gupta und fährt uns zum International Airport. Ab jetzt geht alles schnell und reibungslos, wir heben ab und lassen das Land zurück, das uns so reich beschenkt hat. Phir milenge!