Kerala im Monsun 2014
Es ist das erste Mal, dass wir im Sommer nach Indien reisen, Anfang Juli. Wir sind zu dritt, Thömu, Tochter Amanda und ich. Unser Ziel: Kerala, genauer Varkala an der Malabarküste. Dort haben wir zwei Bungalows direkt am Meer gemietet und stellen uns auf ruhige Tage im rauschenden Regen ein. Lesen, Schreiben, Schlafen… wir wollen es ruhig angehen.
Wir fliegen nach Thiruvananthapuram und verbringen dort ein paar Tage bei strahlendem Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen. Nur ab und zu ziehen schwarze Wolken auf und er regnet kurz und heftig. Das ganze Leben steht dann still, glücklich, wer in einem Tea stall im Trockenen sitzt, den Regen aufs Dach prasseln hört und den unvergleichlichen blumig-erdigen Duft einatmen kann!
Mit dem Zug reisen wir nach Varkala, wo uns das Taxi via den schmalen Klippenweg zu den Maadathil Cottages bringt. Das Paradies! Hinter den hübschen Cottages blühen Tausende rosarote Lotusblumen in einem Teich, die Kokospalmen flüstern und das nahe Meer rauscht — magisch, fast schon kitschig! Wir sind die einzigen Gäste und werden von den freundlichen Angestellten mit einem Drink willkommen geheissen.
Anstatt auf der Veranda dem Regen zu lauschen, verbringen wir die nächsten Tage mit langen Küstenspaziergängen und Wanderungen ins Dorf, essen in den wenigen geöffneten Restaurants und erfreuen uns am menschenleeren Strand. Ganesh, der nette junge Mann aus Karnataka, serviert uns zuverlässig jeden Morgen ein feines Breakfast auf der Veranda, immer mit frischen Früchten. Manchmal braucht er für den kurzen Weg von der Küche zu uns einen Schirm, wenn gerade wieder ein heftiger Regenguss niedergeht. Auch hier ist es vorwiegend sonnig, ab und zu verfärbt sich aber der Himmel grünlich schwarz und dann bleibt nur kurze Zeit, einen Unterstand zu suchen und abzuwarten, dass der starke Regen aufhört. Meist scheint nach kurzer Zeit schon wieder die Sonne, alles dampft und leuchtet dann fast unwirklich.
Yaar Sajan
Thömu und Amanda machen einen Kochkurs und tischen vielfältige wunderbare südindische Speisen auf, darunter das Vegetable Thoran, ein Lieblingsgericht (siehe Rezepte). Ausserdem werden Amandas geliebte (2 Kilo!) Mango- und Limepickles in riesige Gläser abgefüllt, die dann irgendwie im Rucksack verstaut werden müssen. Denn wir möchten weiterreisen. Nach ein paar Tagen der vollkommenen Entspannung werden wir schon wieder kribbelig — wir möchten mehr von Indien sehen!
In einem kleinen Reisebüro entdecken wir eine Annonce für ein Organic Homestay in der Nähe von Chalakudi, Thrissur. Es tönt verlockend und so verabschieden wir uns nach einer Woche Varkala von unseren liebenswerten Gastgebern in den Maadathil Cottages.
Nach ein paar Tagen in Ernakulam und Cochin fahren wir mit dem Bus nach Chalakudi, ein ziemlich verschlafener Ort und nicht gerade ein touristischer Hotspot. Niemand scheint das Chedi Spring Valley zu kennen, wir fangen schon an zu zweifeln, ob wir hier richtig sind. Endlich findet sich ein Rikshafahrer, der uns zu unserem Ziel fährt. Das traditionell gebaute Haus ist recht abgelegen, in der Nähe des Chalakudi Rivers, inmitten von Ananasplantage und Muskatbäumen. Manchmal fühlen wir uns bei unserem Aufenthalt dort wie in einem Theater. Deshalb: Bühne frei für die Darsteller des Dramas “Unvergessliche Tage in Chedi Spring Valley”:
Raj (The Boy): Er stammt aus Orissa, ist sehr scheu, spricht ausser Odisha auch Hindi und macht sich meistens unsichtbar in der Küche zu schaffen. Er ist der Erste, dem wir begegnen. Nachdem wir angekommen sind, bringt er uns zur Begrüssung süssen Kaffee.
Paul (The Boss oder Malik): Zuerst hören wir ihn am Telefon, dann trifft er mit seinem tollen Auto ein. Er ist 47, lebte 3 Jahre in Kopenhagen, steht unter Strom, ist auf der spirituellen Suche. Zyniker, Geschäftsmann, Hip Hop-Liebhaber, hat sich mit seiner Mutter verkracht, springt von einem Projekt zum andern. Fängt hier ein bisschen zu jäten an, gibt dort ein paar Anweisungen. Rastlos, widersprüchlich, interessant. Er weiss auf alles eine Antwort: Everything is very simple.
Wir pflanzen und jäten auf sein Geheiss, spüren die Energy, baden im reinigenden Fluss und versuchen, seinen verästelten Gedankengängen zu folgen.
Grosszügig begleitet er uns mit dem Auto zur Cattle Breeding Farm, wo der Vizedirektor Amanda und uns geduldig herumführt und alles erklärt.
Dann geht’s zum Butterfly Park, wo leider nur ein paar vereinzelte Titilis zu sehen sind. Auf seinen Befehl muss mir Thömu alle 10 Minuten eine Blüte pflücken (“to bring back the romance”). Die erste Dolde, die er mir hinter das Ohr steckt, hat offenbar nicht die gewünschte schmückende Wirkung (“it’s a punishment” .…). Später nimmt er uns mit zu einem kleinen Essensstand, wo Tapioka auf dem Bananenblatt serviert wird. Er kennt überall Leute und ist ein Hansdampf in allen Gassen.
Yoshi (The Artist): Er legt ein Exposé für seinen Film vor, das ich korrigieren soll. Titel: The Portrait of Jesus with a Bindi. Gemäss Drehbuch wird die Geschichte vor der Kreuzigung spielen. Jesus lebt im Himalaya und geniesst die Schönheiten der Natur, bevor er nach Jerusalem reist. Der Film wird in Sanskrit, Bojpuri und Aramäisch spielen. Yoshi bewirbt sich ausserdem für eine scholarship in Frankreich als “artist in residence”. Er malt telepathisch, berät gemäss Prospekt bei sadness und all problems, singt, dichtet und plant, eine Skulptur von Shiva with a beard zu machen. Dazu hat er sich eine Kopie einer alten Darstellung senden lassen (Das Original werden Thömu und ich später zufällig im Museum von Sarnath entdecken).
Shiva (die Seele des Hauses): Er kichert freundlich vor sich hin, serviert jeden Abend very tasty fish und einmal Papadam in a wastebin (hihihi.…. thank you…). Er trägt immer seine Regenjacke und ein Umhängetäschli. Wir lernen ihn näher kennen bei unserem Ausflug an die Wasserfälle. Dazu hat er eine Riksha organisiert, in die wir uns inklusive Fahrer zu fünft quetschen. Bei jedem Wasserfall, bei dem wir aussteigen, fängt es an wie aus Kübeln zu giessen — Wasser von allen Seiten. Am eindrücklichsten ist der Adirapalli-Fall, das Wasser bildet buchstäblich eine Wand und scheint direkt aus dem Himmel zu fallen (“very crazy river”). Wir besuchen eine Adivasi Schule für Buben, essen Parothas in einem einfachen Lokal und fahren endlos durch dichten Urwald. Die Riksha tuckert gemütlich bergauf zu einer Forest Department Station mitten im Wald. Wir dürfen das Plumpsklo benutzen, es fängt wieder an zu giessen und wir werden am Schärme von den netten Rangers mit süssem Tee bewirtet. Wir plaudern gemütlich, unser Fahrer gesellt sich dazu, flüstert mit Shiva und wirft immer besorgtere Blicke auf unsere Füsse. Shiva weist schliesslich sanft darauf hin, dass Amanda einen “small leech” am Zeh hat. Wääh, gruusig! Die Rangers wissen Rat und streuen Salz auf den vollgesogenen Egel, der sich dann zusammenzieht und blutend abfällt. Ausgerechnet bei Amanda, die doch extra noch Anti-Leech Socken gekauft hat!
Bei der Rückfahrt gibt’s dann ein Problem: ein Gaskabel reisst und unser Truckli steht mitten im Jungle still. Alle Reparaturversuche nützen nichts, die Riksha macht keinen Wank mehr. Ausserdem gibt es keinen Handyempfang und das Trompeten der wilden Elefanten tönt beunruhigend nah. Offenbar sind diese Waldelefanten sehr gefährlich, eine Gruppe wurde schon gesichtet. Shiva wird immer stiller, der Regen prasselt nieder, wir sitzen im Nirgendwo in unserer Riksha und warten auf Rettung. Die erscheint dann auch tatsächlich in Gestalt von vier hilfsbereiten Männern aus Kerala. Sie schleppen die Riksha mit einem Seil ab, in halsbrecherischer, gefährlicher Fahrt schlingern wir zur nächsten Bushaltestelle. Thömus Tattoo (Inquilab Zindabad = lang lebe die Revolution) sorgt wieder für Aufruhr bei den überzeugten Kommunisten.
Zum Glück geht das Abenteuer gut aus. Shiva ist wieder entspannter (“you are a holy family”) und der unglückliche Rikshafahrer erhält trotzdem das ganze Salär. Mit dem Bus fahren wir schliesslich heim. Der Boss nimmt das Ganze zum Glück gelassen, und wir rühmen Shiva für sein umsichtiges Verhalten.
Beim Znacht sitzen wir dann alle am gleichen Tisch, sogar der scheue Raj darf dabei sein. Eine schräge Truppe ist hier zusammenkommen! Es kommt fast ein wenig WG-Feeling auf und es gibt viel zu lachen. Ein zusätzlicher Gast ist:
Feroz (I like Hitler)
Klein, drahtig, ein ehemaliger Fussballspieler und grosser Fan von Philipp Lahm und dem deutschen Fussball. Überhaupt Deutschland sehr zugetan, seine Bewunderung für Hitler hat er uns verschwörerisch beim Tapioka-Essen zugeraunt. Seine 39 Jahre sieht man ihm nicht an. Er lebt mit seiner Mutter zusammen und betreibt ausser Reisanbau und Fischzucht auch ein kleines Touristenunternehmen. Er bietet Kanutouren in den Backwaters an und spricht erstaunlich gut Englisch.
Wir sitzen auf der Terrasse und schauen in die Ananasfelder, hören den Grillen zu und dem Rauschen des Flusses, der nach den Regenfällen stark angestiegen ist. Am Abend, just als Amanda und ich einen Regentanz aufführen, trifft eine keralische Familie mit vielen Kindern ein. Sie wohnen in Bahrain und sind ferienhalber wieder in der Heimat. Die Kinder geniessen den Regen sehr, sie spielen und schreien pfludinass draussen herum. Die Hunde müssen wieder an die Leine, einzig die Katzen geniessen das Privileg, frei laufen zu dürfen.
Shiva serviert uns seinen tasty fish am Tisch drinnen. Er kann einfach nicht darauf verzichten, obwohl er auf Geheiss des Boss auch Gemüsecurry auftischt, den er bei einer Nachbarin geholt hat. Am Morgen hat er Thömu einmal auch Idlis serviert, ebenfalls bei einer anderen Köchin geholt. Der Boss hat es ihm befohlen (“to prevent an emotional breakdown” bei Thömu). Er darf dann auch das grosse Glas mit Pickles behalten, das die Reise in Amandas Rucksack wohl nicht gut überstehen würde.
Am letzten Abend packen wir unsere feuchten Sachen im Dunkeln bei Stromausfall und schlafen das letzte Mal im Deluxe Zimmer. Nach fünf Tagen und nach einem letzten Zmorge müssen wir uns von unseren liebenswerten, speziellen WG-Mitbewohnern verabschieden.